Er begleitet sie bis zum Zimmer, dann kommt er zurück ins Lokal; und hier sagt er, und es tönt sonderbar:
«Ja, ich habe sie wieder kommen lassen … Denn ich glaube, etwas wird passieren. Und bald», sagt er, «aber redet nicht davon …»
Und Fontana:
«Farinet, ja … Wir sprachen von ihm …»
Aber Crittin blinzelt ihm zu.
II
Und wirklich, in dieser selben Nacht, die Uhr der Kathedrale hatte kurz vorher zwölfmal geschlagen, war Farinet ohne Geräusch von seinem Strohsack aufgestanden und aus dem hölzernen Rahmen gestiegen, der an der Mauer festgemacht war.
Eben noch hatte der Aufseher seine Runde gemacht und war vor der eisengepanzerten Tür gestanden, hatte das vergitterte Guckloch geöffnet und ihn dort liegen gesehen, musterhaft unter der Decke; dann war auch er schlafen gegangen.
Kurz nach den zwölf mitternächtlichen Glockenschlägen hatte er sich aufgesetzt. Farinet auf seinem Strohsack.
Eine ganze Weile hatte er sich nicht gerührt. Er war vorsichtig und berechnend; immer, in allem. Lange war er unbeweglich dagesessen, um sicher zu sein, dass alles ruhig war in dem Käfig (so nannten die Leute im Land das Gefängnis).
Er hatte nichts gehört. Er hatte nur noch die Decken zurückschlagen müssen.
Kurz nach Mitternacht steht er auf; er geht mit bloßen Füßen zum Fenster, zu der vergitterten Mauerscharte, er packt einen der Stäbe und zieht sich hinauf; dann machte
er sich, ins Gemäuer geduckt, wie ein Kaminfeger in den Rauchfang, an seine Arbeit.
Man hat nie herausgebracht, wie er sich die Metallfeile beschafft hatte. Offensichtlich hatte er sie schon benutzt; die Gitterstäbe waren zu drei Vierteln durchgesägt. Und nun ließ die Feile wieder ihr Husten hören, oder einen keuchenden Laut, wie wenn einer Asthma hat; von Zeit zu Zeit hielt er an, aber alles blieb still in dem Käfig, und das Feilen begann von neuem.
So war die erste Stange bald durchgefeilt, dann die zweite. Sie waren immerhin beide solid, mit Hammer und Amboss geschmiedet, in der alten Zeit (als man noch wusste, was Schmiedearbeit war): Trotzdem waren sie nun entzwei, am oberen Ende, direkt am Stein, die eine wie die andere; denn Farinet hatte beschlossen, ihnen so viel Länge wie möglich zu lassen, damit sie sich eher bogen. Er hält sich wieder einen Augenblick ganz still, er muss warten, bis das schwere Klopfen seines Herzens zum Schweigen kommt. Er leckte den salzigen Schweiß von den Mundwinkeln; hinten rann er ihm den Nacken hinunter, er klebte ihm das Hemd auf die Haut. Der Mondschein schnitt jetzt seinen Körper in zwei Hälften, auf der Höhe des Gürtels; der untere Teil stand im Licht; der untere Teil des Körpers war wie Eis, der Kopf und die Hände waren wie Feuer. Macht nichts, man wird ihnen zeigen, wer man ist! Er wartet geduldig, solange es sein muss, er horcht mit dem einen Ohr auf die Geräusche, die drinnen im Gefängnis laut werden könnten, mit dem anderen Ohr auf die Töne, die von draußen hereindringen oder hereindringen könnten; aber er hört nur ein Pferd, das da unten hustete, auf der anderen Seite der Hofmauer; und dann die Uhr der Kathedrale, die eins schlug.
Er hält sich mit beiden Händen an einer der Stangen fest; er lässt sich nach hinten fallen …
Ah!, und die meinten, sie hätten mich! Die Stange gab nach unter seinem Gewicht; die meinten, sie könnten mich noch sechs Monate in ihrem Käfig behalten; sie wussten nicht, wer ich bin.
Der italienische König auch nicht, Umberto der Erste: Jetzt weiß er’s. Farinet war an der zweiten Stange, er merkte nicht einmal, dass ihm das Blut über den Arm rann bis unter die Achsel; die zweite Stange gab auch nach. Beide bildeten jetzt Haken, die sich abwärts bogen, und über sich gaben sie genauso viel Raum frei, wie einer brauchte, um durchzuschlüpfen; knappen Raum freilich, ganz knappen sogar, der Körper ging da nur flach durch, aber Farinet kannte sich aus! Wenn einer von Kind auf in den Bergen herumgestiegen ist, weiß er Bescheid; und die Freiheit wartete auf ihn, ganz nahe war sie und kam bis zu ihm herein mit dem Mondlicht und sagte zu ihm: «Fast bist du so weit, Farinet, nur ein wenig streng dich noch an, ja, so …» Sie sagte zu ihm: «Jetzt musst du bloß noch das Seil festmachen … Ja, so … Zwei Knoten machst du. Hab keine Angst.»
Er hatte keine Angst. Denn man mochte ihn gern, und die Dinge mochten ihn auch. Er hatte nicht sein Leintuch in Streifen reißen müssen wie so viele Gefangene, von denen man in den Büchern liest; er hatte ein Seil, ein richtiges, ein Seil aus gutem Hanf, so lang, wie er es brauchte, ungefähr acht Meter. Man mochte ihn gern, man sorgte für ihn. Und er sah, dass auch die Dinge ihn gern hatten; denn gerade als
er nun das Seil mit einem doppelten Knopf am Gitter befestigt hatte, war eine Wolke vor den Mond getreten. Das Gefängnis steht oben auf dem Stadthügel, mit seinen hohen, nackten Mauern; man hätte ihn leicht bemerken können, als dunklen Schatten vor der hellen Fassade, wenn der Mond darauf schien, aber der scheint jetzt nicht. «Ich will dir nicht im Weg sein», hatte er gesagt und war im selben Augenblick hinter einer dicken schwarzen Wolke verschwunden. Farinet lässt sich hinunter, der Mauer nach, in tiefdunkler Nacht, nicht zu bemerken. Er muss nur dem Seil bis zum Ende folgen, um Boden zu finden. Er dachte nichts mehr, es geht alles sehr rasch. Die Bewegungen, die er machte, schien ein anderer für ihn zu machen; sie folgen einander so schnell, dass er sie nicht einmal wahrnahm. Wie er unten angelangt ist, machen seine Schritte kein Geräusch. Es ist, als wäre er auf dem Grund eines Sodbrunnens, es war der Rundgang, ein kurzer Weg: höchstens fünf Schritte; er macht sie geräuschlos, in tiefster Dunkelheit. Der Mond dort über allen Kirchtürmen von Sion und dem Bischofssitz sagte: «Ich bleibe im Versteck»; und er kommt mit seinen geräuschlosen Schritten zur Umfassungsmauer, fünf oder sechs Meter hoch ist sie, aber er kennt sich aus. Das ist so, wie wenn er Gold suchte, wenn er Gämsen verfolgte, und hinter einer Biegung brach der Weg ab; es ging nicht weiter, es ging nicht zurück, auch hinunter nicht: auf diesen handbreiten Vorsprüngen, denen man folgt, bis sie plötzlich nicht mehr da sind in der Leere, wo man die Kühe sieht zwischen den Beinen hindurch, nicht größer als Marienkäferchen, vierhundert Meter tiefer. Und da (er lachte in sich hinein), da meinen sie, mit ihrem bisschen Mauer halten sie mich auf, und der Große Maurer hat’s nicht gekonnt. Oder fragt doch den italienischen König, Umberto den Ersten, ihr wisst schon, als der mich behalten wollte. Der hatte auch Mauern, und was haben sie ihm genützt? Mit den Fingerspitzen findet er über seinem Kopf eine Ritze; mit den Zehenspitzen findet er eine andere Ritze in der Mauer der Regierung. Er drückt sich an den Stein, so eng er kann, den Arm hinaufgestreckt. Der andere Arm sucht weiter oben, findet auch Halt, und der erste kommt ihm nach; er zieht sich hoch, hilft mit dem Knie nach. So gelangt er auf die Mauer, während Sion schlief; er greift mit dem linken Arm hinüber und legt sich flach auf die Mauer. Geschafft! Der italienische König … Zwei, drei Wörter, immer dieselben, tönten in seinem Kopf, während ein warmer Strom von den Schläfen zu den Ohren floss, laut, aber angenehm jetzt; als ob man ihm Bravo zuriefe. Der italienische König … der italienische König …
Das Pferd hustete wieder.
Dann schlägt auch die Turmuhr wieder.
Diesmal schlug die helle Glocke, die tiefere war für die Stundenschläge da, die helle für die halben Stunden. Da erinnerte sich Farinet, dass seine Arbeit noch nicht ganz zu Ende war.
Er war die Rebhänge hinaufgestiegen, dann hatte er sich unter einem Apfelbaum ins Gras fallen lassen.
Er atmete die Luft der Freiheit ein, so tief er konnte. Er streckte die Hand aus, er spürt unter seiner Hand und durch den Stoff seiner Hosen das nasse Gras, er hebt den Kopf, und da sieht er die Sterne wieder, er kann jetzt den Himmel wieder von einem Ende zum andern sehen, und das ist gut, das ist schön.
Er war anfangs sehr rasch gegangen, eher gelaufen als gegangen, war die steinige Halde hinaufgeklettert, zwischen den Rebstöcken mit ihren Schossen, die man eben erst aufgebunden hatte, oder unten in den Gräben, die man für das Absenken zieht und die ihm nun gute Verstecke boten; er hatte keine Zeit gehabt, etwas zu denken, wie er da in