Achtsam durch den Tag. Jan Chozen Bays. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Chozen Bays
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783864103612
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entsteht daraus, dass der Geist in Neutralität verweilt, sodass er sich klären kann und eine saubere Leinwand entsteht, auf der neue Ideen, Gleichungen, Gedichte, Melodien oder farbenfrohe Pinselstriche entstehen können.

      Gestatten wir es dem Geist, in der Gegenwart zu ruhen, voll von dem, was tatsächlich genau jetzt geschieht, und ziehen wir ihn ab von wiederholten fruchtlosen, unsere Energie aufzehrenden Ausflügen in die Vergangenheit, die Zukunft und in Phantasiewelten, dann tun wir etwas sehr Wichtiges. Wir erhalten die Energie des Geistes. Er bleibt frisch und offen, bereit, auf alles zu reagieren, was in ihm auftaucht.

      Das mag sich trivial anhören, aber das ist es keineswegs. Gewöhnlich ruht unser Geist nie. Selbst während der Nacht ist er aktiv und erzeugt aus einer Mischung aus unseren Ängsten und den Ereignissen unseres Lebens Träume. Wir wissen, dass unser Körper ohne Verschnaufpausen nicht funktionieren kann, deshalb gönnen wir ihm jede Nacht wenigstens ein paar Stunden, in denen er sich hinlegen und ausruhen kann. Wir vergessen jedoch, dass auch unser Geist Ruhephasen braucht. Er findet sie im gegenwärtigen Moment, in dem er sich niederlassen und sich dem Fluss der Ereignisse überantworten kann.

      Die Übung der Achtsamkeit erinnert uns daran, unsere Energie nicht für Reisen in die Vergangenheit und die Zukunft zu vergeuden, sondern immer wieder an ebendiesen Ort zurückzukehren und in dem zu ruhen, was genau jetzt geschieht.

      2. Achtsamkeit schult und stärkt den Geist

      Wir wissen alle, dass man den Körper trainieren kann. Wir können beweglicher werden (Turner und Akrobaten), graziöser (Balletttänzer), geschickter (Pianisten) oder stärker (Gewichtheber). Der Tatsache jedoch, dass es viele Aspekte des Geistes gibt, die man kultivieren kann, sind wir uns weniger bewusst. Kurz vor seiner Erleuchtung beschrieb der Buddha die Eigenschaften von Herz und Geist, die er über viele Jahre entwickelt hatte. Er hatte beobachten können, dass sein Geist „gesammelt, gereinigt, licht, unbefleckt, geschmeidig, gehorsam, frei von Mängeln und unerschütterlich“ geworden war. Wenn wir Achtsamkeit üben, lernen wir, den Geist aus seiner gewohnheitsmäßigen Voreingenommenheit herauszuheben und ihn an einem Ort unserer Wahl abzusetzen, um einen bestimmten Bereich unseres Lebens zu erhellen. Wir schulen ihn darin, leicht, machtvoll und flexibel zu sein und sich auf das zu konzentrieren, worauf wir ihn richten möchten.

      Der Buddha sprach von der Notwendigkeit, den Geist zu zähmen. Er verglich diesen Vorgang mit dem Zähmen eines wilden Elefanten aus dem Dschungel. So wie ein wilder Elefant Schaden anrichten kann, indem er die Ernte niedertrampelt und Menschen verletzt, so kann der ungezähmte und launische Geist uns selbst und den Menschen um uns herum schaden. Unser menschlicher Geist besitzt viel mehr Macht und viel größere Kräfte, als uns klar ist. Die Achtsamkeit ist ein wirksames Instrument zur Schulung des Geistes; sie verschafft uns Zugang zum wahren Potenzial des Geistes – zu Einsicht, Freundlichkeit und Kreativität – und ermöglicht uns, es zu nutzen.

      Der Buddha wies darauf hin, dass man einen wilden Elefanten, nachdem man ihn eingefangen und aus dem Dschungel herausgeführt hat, erst einmal an einen Pfahl binden muss. Was unseren Geist angeht, so nimmt der Pfahl die Form dessen an, worauf wir die Aufmerksamkeit in unserer Achtsamkeitsübung richten – zum Beispiel die Form des Atems, des Essens in unserem Mund, unserer Körperhaltung. Wir verankern den Geist, indem wir ihn immer und immer wieder zu einer Sache zurückkehren lassen. Das beruhigt ihn und befreit ihn von Ablenkungen.

      Ein wilder Elefant hat viele ungestüme Gewohnheiten. Er läuft weg, wenn sich ihm Menschen nähern. Er greift an, wenn er sich fürchtet. Mit unserem Geist ist es ganz ähnlich. Wenn er Gefahr spürt, rennt er vor der Gegenwart davon. Er flüchtet sich in angenehme Phantasien, in Gedanken an künftige Rache, oder er wird einfach taub. Wenn er verängstigt ist, greift er vielleicht in einem Wutausbruch andere Menschen an, oder er richtet den Angriff nach innen mit stiller, aber zersetzender Selbstkritik.

      Zu Lebzeiten des Buddha wurden Elefanten als Reittiere für den Krieg trainiert; man brachte ihnen bei, Befehlen zu gehorchen, ohne vor dem Lärm und dem Chaos auf dem Schlachtfeld zu fliehen. So kann auch ein durch Achtsamkeit geschulter Geist den sich schnell verändernden Bedingungen des modernen Lebens unerschütterlich standhalten. Ist unser Geist erst einmal gezähmt, vermag er ruhig und gefestigt zu bleiben, wenn er mit den unvermeidlichen Schwierigkeiten in dieser Welt konfrontiert wird. Schließlich laufen wir nicht mehr vor Problemen davon, sondern sehen sie als eine Möglichkeit, unsere physische und mentale Stabilität auf die Probe zu stellen und auszubauen.

      Die Achtsamkeit hilft uns, die gewohnheitsmäßigen und konditionierten Fluchtmechanismen unseres Geistes zu erkennen, und gestattet es uns, eine alternative Weise des In-der-Welt-Seins auszuprobieren. Diese Alternative besteht darin, unseren Geist in den tatsächlichen Ereignissen des gegenwärtigen Augenblicks ruhen zu lassen – in den Klängen, die wir mit den Ohren hören, den Empfindungen, die wir über unsere Haut fühlen, den Farben und Formen, die die Augen aufnehmen. Achtsamkeit hilft, das Herz und den Geist zu stabilisieren, sodass sie von den unvorhergesehenen Ereignissen in unserem Leben nicht mehr so heftig durchgerüttelt werden. Üben wir Achtsamkeit lange und geduldig genug, dann interessieren wir uns schließlich für alles, was geschieht; wir werden neugierig darauf, was wir aus Widrigkeiten und schließlich sogar aus unserem eigenen Tod lernen können.

      3. Achtsamkeit ist gut für die Umwelt

      Der größte Teil dieser mentalen Aktivität, die endlos in den Reichen der Vergangenheit, der Zukunft und der Phantasie umherwandert, ist nicht nur nutzlos, sondern auch destruktiv. Warum? Sie wird nämlich angetrieben von einem ökologisch schädlichen Treibstoff: der Angst.

      Sie fragen sich vielleicht, was Angst denn mit Ökologie zu tun hat. Wenn wir von Ökologie sprechen, dann denken wir gewöhnlich an eine Welt der physischen Beziehungen zwischen Lebewesen, etwa der Beziehungen zwischen Bakterien, Pilzen, Pflanzen und Tieren in einem Wald. Aber ökologische Beziehungen basieren auf einem Austausch von Energie – und Angst ist eine Energie.

      Wir sind uns vielleicht dessen bewusst, dass es sich schädlich auf ein ungeborenes Kind auswirken kann, wenn eine Mutter in chronischer Angst lebt und sich deshalb der Fluss der Nährstoffe und der Hormone verändert, die den Fötus überfluten. Wenn wir Angst haben, dann beeinflusst das gleichermaßen die vielen „Lebewesen“ in unserem Inneren – unser Herz, unsere Leber, unseren Darm, die Milliarden von Bakterien in unserem Darm, unsere Haut. Die negativen Auswirkungen von Angst und Sorge sind nicht auf unseren Behälter, unseren Körper, beschränkt. Unsere Angst beeinflusst auch jedes Wesen, mit dem wir in Kontakt kommen. Angst ist ein höchst ansteckender Geisteszustand, der sich schnell über ganze Familien, Gemeinschaften und sogar Nationen ausbreitet.

      Achtsamkeit bedeutet, dass wir unseren Geist an einem Ort ruhen lassen, an dem es keine Angst und keine Sorge gibt. Tatsächlich finden wir dort das genaue Gegenteil. Wir entdecken Einfallsreichtum, Mut und ein stilles Glück.

      Wo befindet sich dieser „Ort“? Er kann nicht geographisch oder zeitlich lokalisiert werden. Er ist die fließende Zeit und der Ort des gegenwärtigen Augenblicks. Angst wird von den Gedanken an Vergangenheit und Zukunft genährt. Wenn wir diese Gedanken fahren lassen, dann lassen wir auch die Angst fahren und sind in Frieden. Doch wie gelingt uns dies? Wir lassen unsere Gedanken los, indem wir vorübergehend Energie von der Denkfunktion des Geistes abziehen und diese der Aufmerksamkeitsfunktion des Geistes zuführen. Diese bewusste Zufuhr von Energie ist die Essenz der Achtsamkeit. Entspannte, wache Aufmerksamkeit ist das Gegenmittel gegen Angst und Sorge, sowohl gegen unsere eigene als auch gegen die der anderen. Sie ist eine ökologisch förderliche Weise, ein menschliches Leben zu führen; sie verändert die Atmosphäre zum Besseren.

      4. Achtsamkeit erzeugt Vertrautheit

      Das, wonach wir am meisten hungern, ist nicht Nahrung, sondern Vertrautheit. Wenn es in unserem Leben an Intimität mangelt, dann fühlen wir uns von anderen Wesen getrennt, allein, verletzlich und in dieser Welt nicht geliebt.

      Gewöhnlich erwarten wir, dass andere Menschen unser Bedürfnis nach Intimität befriedigen. Unsere Partner und Freunde können jedoch nicht immer so für uns da sein, wie wir es benötigen. Glücklicherweise