Die Suche nach Tony Veitch. William McIlvanney. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: William McIlvanney
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956140365
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ihrer Ehe.

      »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte nebenherrennen sollen.«

      Die anderen nahmen die Bemerkung amüsiert hin, wie einen anzüglichen Witz auf einer Beerdigung. Laidlaw spürte, dass sein Gefühl von Isoliertheit in Aggression umschlug. Das Telefon rettete ihn.

      »Ich geh dran«, sagte er.

      Er achtete darauf, sein Schritttempo zu zügeln, damit der Teppich nicht Feuer fing. Das Telefon stand im Flur.

      »Hallo?«

      »Ist da Detective Inspector Jack Laidlaw?«

      »Genau.«

      »Der Detective Inspector Jack Laidlaw? Leiter des Crime Squad? Beschützer der Armen? Anwalt der kleinen Leute?«

      Zuerst erkannte Laidlaw den Stil, dann die Stimme. Es war Eddie Devlin vom Glasgow Herald.

      »Du liebe Zeit, Eddie«, sagte er. »Deine Witze werden immer schlechter. Hättest du nicht deinen Korrektor mit ans Telefon holen können?«

      »Das kommt davon, dass man der Öffentlichkeit ständig geben muss, was sie von einem erwartet. Hör zu, Jack. Im Royal liegt jemand in der Notaufnahme, der dich dringend sprechen will.«

      »Heute noch? Hat er auch gesagt, ob ich Maltesers oder dunkle Trauben mitbringen soll? Was willst du, Eddie?«

      »Nein. Im Ernst, Jack. Ich hab den Tipp von einem Pförtner bekommen. Ein alter Säufer, mit einem Kratzschwamm am Kinn. Stinkt wie ein Fass nach der Weinernte. Er ist gerade so noch bei Bewusstsein. Aber er hat immer wieder nach Jack Laidlaw gefragt. Will unbedingt Jack Laidlaw sprechen. Der Pförtner gehört zu meinen Informanten, weißt du? Na ja, er hat schon mal mitbekommen, dass ich von dir gesprochen habe. Deshalb dachte er, er sagt’s mir lieber. Für mich springt dabei nichts raus. Wahrscheinlich deliriert der Alte im Suff. Nichts für ungut, Jack, aber Errol Flynn bist du nicht gerade. Vermutlich trotzdem noch besser als Spinnen und rosa Elefanten.«

      »Ist er verletzt?«, fragte Laidlaw.

      »Anscheinend nicht. Aber ich hab nicht viel rausbekommen. Er gibt sich Mühe, aber mit dem Reden hat er’s nicht so.«

      »Wann hast du den Anruf bekommen, Eddie?«

      »Hier im Pub. Vor fünf Minuten. Dachte, ich sag dir lieber Bescheid, bevor ich gehe. Will noch mal im Vicky vorbei. Wegen Paddy Collins. Vielleicht bekomme ich ja ein paar berühmte letzte Worte. Egal, mach was du willst, Jack.«

      »Danke, Eddie. Bin dir was schuldig.«

      »Schon gut. Wenn die Revolution kommt, hätte ich gerne einen Presseausweis. Bis bald, Jack.«

      »Bis bald.«

      Laidlaw legte auf. Eddies Stimme hatte ihm das Trommelfell durchbohrt. In der Stadt war einiges los. Aber er hatte Gäste. Oder besser, Ena hatte Gäste. Er wollte fair sein, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie ihn nicht vermissen würden. Wahrscheinlich würden sie seine Abwesenheit sogar als Erleichterung empfinden.

      Jedes arbeitsfreie Wochenende war verplant. Ena hatte sich an die sozialunverträglichen Dienstzeiten bei der Polizei gewöhnt und gelernt, fehlende gemeinsame Stunden wieder wettzumachen. Wenn Laidlaw darauf bestand, mit dem Kalender umzugehen wie ein Alkoholiker mit Schnaps – lange Abwesenheiten, kurze Stippvisiten zur Ausnüchterung zu Hause –, so hatte sie beschlossen, seine Freizeit grundsätzlich gemeinsam mit ihm zu verbringen. Sie setzte Babysitter ein wie Schachfiguren – matt. Seinen Durst nach den Straßen Glasgows bekämpfte sie mit Ereignissen, so sorgfältig abgefüllt wie selbst gekelterter Wein, jede Flasche längst im Voraus etikettiert. »Freitag – Frank und Sally.« »Samstag – Party bei Mike und Aileen.« »Samstag – Film mit Al Pacino im La Scala. Babysitter schon bestellt.«

      Heute war »Freitag – Donald und Ria«. Nicht ihr bester Jahrgang und mit einer starken Kohlsuppennote im Abgang, auf keinen Fall berauschend, aber vielleicht, hoffte Laidlaw, würden die zwischenmenschlichen Geschmacksknopsen langfristig so abstumpfen, dass er eine Binsenweisheit nicht mehr von einem Lebenselixier unterscheiden konnte. Er bemühte sich, nichts gegen Donald und Ria zu haben. Trotzdem hatte er, wenn sie zu viert zusammensaßen, das Gefühl, an einer Feldstudie über Gruppensedierung teilzunehmen.

      Außerdem ging es vielleicht um jemanden, der ihm einen Gefallen getan hatte. Jemanden, der im Sterben lag. In dem Raum, den er gerade verlassen hatte, lag niemand im Sterben. Wahrscheinlich waren die dort Anwesenden längst tot. Im Sterben lagen sie jedenfalls nicht.

      Er trug ein rotes Polohemd und eine schwarze Hose, holte seine Jeansjacke aus dem Schrank im Flur und zog sie über. Gerne hätte er das Komitee von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt, aber dann hätten die Anwesenden Veto eingelegt. Seine Entscheidung stand fest. Er hatte ein schlechtes Gewissen, aber das Gefühl war ihm vertraut.

      3

      ES WAR NUR EINE KURZE FAHRT von Cathcart, wo Laidlaw lebte, bis zum Royal Infirmary in der Cathedral Street, aber ein Riesenunterschied. Zum Glück wandelte sich die Architektur stufenweise, wie in Druckkammern, sodass man keine Kopfschmerzen davon bekam.

      Das erste Tor stand halb offen und er fuhr durch. Viele Autos parkten hier, aber es war noch genug Platz. Er schloss den Wagen ab, und wieder wurde ihm bewusst, wie groß das Gebäude war, drei riesige miteinander verbundene Einheiten, jede mit einem imposanten Kuppeldach, wie eine Burg aus schwarzem Stein. Krankheit erschien ihm hier weniger als ein Gleichmacher denn als Ritterschlag, die Voraussetzung für den Zugang zur gothischen Aristokratie.

      Auf der anderen Seite des Hofs befand sich die Unfallstation, wie ein Torhaus, in dem zunächst die Referenzen geprüft werden. Er ging hinein, es war nach elf.

      Im Flur parkten blaue Rollstühle, ungefähr dreißig. Auf einem saß ein Junge von vielleicht zwanzig Jahren. Aber er war nicht gelähmt. Er wirkte so krank, als könne er Gleise durchbeißen. Die kleinen Kratzer auf seiner rechten Wange unterstrichen nur die Härte seiner Erscheinung. Er hatte eine dünne Jacke umgelegt, deren Schultern schwarz waren vor Blut. Er wartete auf jemanden.

      »Hey, du«, sagte er, als Laidlaw eintrat. »Hast du mal ne Kippe?«

      Laidlaw sah neugierig zu ihm rüber. Er erkannte Alkohol, aber keine Betrunkenheit, dafür die Reste einer Aggression aus einem gewonnenen Kampf. Sein Adrenalinausstoß stand unter der Überschrift: »Wer ist als Nächstes dran?«

      Laidlaw wandte sich zur Tür Richtung Notaufnahme.

      »Hey, du! Großer. Ich rede mit dir. Rück mal ne Kippe raus!«

      Laidlaw ging zu ihm.

      »Schau mal, Kleiner«, sagte er. »Bis jetzt hast du nur ein paar Blessuren. Willst du unbedingt auf die Intensivstation?«

      Der Junge guckte ratlos angesichts des fremden Wortes, aber der Tonfall war so universal wie Esperanto.

      Er sagte: »Komm schon. Hab dich bloß um einen kleinen Gefallen gebeten.«

      »Dann pass auf, dass deine Bitte nicht nach einer Drohung klingt.«

      Laidlaw gab ihm eine Zigarette.

      »Das Ende mit dem Filter steckt man in den Mund, das andere zündet man an.«

      Der Junge grinste. Laidlaw wandte sich wieder Richtung Notaufnahme. Der Raum war lang, die Decke gewölbt, gleichzeitig schlicht und überladen, wie eine viktorianische Wellblechbaracke. Laidlaw begab sich hinein, als wär’s eine Zeitschleife.

      Zuerst fielen ihm zwei Geister seiner Jugend auf, zwei Constables, deren Gesichter an frisch gelegte Eier erinnerten. Nicht weit von ihnen entfernt stand eine Gruppe in weißen Arztkitteln. Laidlaw hoffte, dass es Studenten waren. Die Polizisten und die Ärzte wirkten so jung, als hätten sie ihre Uniformen zu Weihnachten geschenkt bekommen. Plötzlich war Laidlaw Rip Van Winkle.

      Er warf einen Blick in das Behandlungszimmer rechts. Unter der Aufsicht zweier Schwestern machte ein Arzt einem Jungen Vorhaltungen, der dort mit freiem Oberkörper saß. Er war von den Haarspitzen bis zum Gürtel blutüberströmt.