Es gibt in dieser Komposition Passagen, die für einen Orchesterchef körperlich weit anstrengender sind. Karajans Herz ließen sie jedoch nur geringfügig schneller schlagen. Was seine anderen Aktivitäten anging, so schien er sie sich weniger zu Herzen zu nehmen, wenn man so sagen kann. Ob er mit seinem Privatflugzeug zur Landung ansetzte oder gar einen Fehlstart hinlegte, sein Herz schien dies kaum zur Kenntnis zu nehmen. Das Herz Karajans gehörte ganz und gar der Musik. Und als der Maestro die Musik aufgab, spielte sein Herz nicht mehr mit.
Wer hat noch nie die Geschichte von einem betagten Nachbarn gehört, der wenige Monate nach seiner Frau gestorben ist? Oder von einer Großtante, die nach dem Tod ihres Sohnes das Zeitliche segnete? Der Volksmund spricht in solchen Fällen von einem »gebrochenen Herzen«. Lange Zeit hat die medizinische Wissenschaft derlei Vorfälle verächtlich abgetan und sie auf das Konto bloßer Zufälle verbucht. Erst seit etwa zwanzig Jahren haben mehrere Kardiologen- und Psychiaterteams sich ernsthaft mit diesen »Anekdoten« befasst. Wie sie entdeckten, ist Stress, was Herzkrankheiten betrifft, ein noch größerer Risikofaktor als Rauchen.2 Man ist auch dahintergekommen, dass eine Depression nach einem Herzinfarkt den Tod des Patienten innerhalb des nächsten halben Jahres präziser vorhersagt als jede Messung der Herzfunktion.3 Wenn das emotionale Gehirn aus den Fugen gerät, leidet das Herz darunter und gibt schließlich auf. Die überraschendste Beobachtung ist jedoch, dass dieses Verhältnis umkehrbar ist. Das Gleichgewicht unseres Herzens beeinflusst ständig unser Gehirn. Manche Kardiologen gehen sogar so weit, von einem untrennbaren »Herz-Hirn-System« zu sprechen.4
Gäbe es ein Medikament zur Harmonisierung dieser engen Beziehung zwischen Herz und Gehirn, hätte es wohltuende Auswirkungen auf den Organismus als Ganzen. Es würde den Alterungsprozess verlangsamen, Stress und Müdigkeit abbauen, Angstgefühle beseitigen und uns vor Depressionen bewahren; nachts würde es uns helfen, besser zu schlafen, und tagsüber, entsprechend unseren Fähigkeiten zur Konzentration und Genauigkeit zu funktionieren. Vor allem würde es uns dann leichter fallen, jenen Zustand des Flow, der gleichbedeutend mit Wohlbehagen ist, herzustellen. Es wäre ein Mittel gegen Bluthochdruck, Angstzustände und Depressionen, »alles in einem«. Gäbe es eine solche Arznei, jeder Mediziner würde sie verschreiben. Vielleicht würden letztlich die Regierungen sie sogar dem Trinkwasser beimengen, so wie in manchen Ländern das Fluor für die Zähne.
Leider existiert dieses Wundermittel noch nicht. Dafür kennen wir seit kurzem ein einfaches und wirksames Verfahren, das jedermann zur Verfügung steht und offenbar genau die notwendigen Voraussetzungen für eine Harmonie zwischen Herz und Hirn schafft. Obwohl diese Methode erst vor kurzer Zeit entwickelt wurde, haben mehrere Untersuchungen bereits ihre günstigen Auswirkungen auf Körper und Gefühle derjenigen, die sie beherrschen, bewiesen, einschließlich einer Verjüngung ihrer Physiologie. Um zu verstehen, wie das möglich ist, müssen wir uns zunächst kurz die Funktionsweise des Herz-Hirn-Systems ansehen.
DAS HERZ DER GEFüHLE
Gefühle verspüren wir im Körper, nicht im Kopf – zumindest dies scheint selbstverständlich. Schon 1890 schrieb William James, Harvard-Professor und Vater der amerikanischen Psychologie, ein Gefühl sei vor allem ein körperlicher Zustand und erst dann eine Wahrnehmung im Gehirn. Seine Schlussfolgerungen leitete er daraus ab, wie wir normalerweise Gefühle empfinden. Sagt man nicht beispielsweise: »Mir steckt die Angst in den Knochen«, oder es sei einem »leicht ums Herz«, dass einem »die Galle überläuft«, oder auch, man sei »verbittert«? Es wäre falsch, in diesen Wendungen lediglich Stilfiguren zu sehen. Vielmehr sind es recht genaue Beschreibungen dessen, was wir in verschiedenen Gemütsverfassungen verspüren. In der Tat weiß man seit kurzem, dass Darm und Herz eigene Netzwerke von zigtausend Neuronen besitzen, die so etwas wie »kleine Gehirne« im Körper darstellen. Diese lokalen Gehirne können selber Dinge wahrnehmen, ihre Wirkungsweise in Abhängigkeit davon modifizieren und sich entsprechend ihren Erfahrungen sogar verändern, das heiß, in gewisser Weise eigene Erinnerungen ausformen.5
Doch das Herz verfügt nicht nur über ein eigenes, halbautonomes Nervensystem, sondern ist auch eine kleine Hormonfabrik. Es sondert Adrenalin ab, das es freisetzt, wenn es seine Kapazitäten voll ausschöpfen muss. Zudem schüttet es das Hormon Noradrenalin aus, das den Blutdruck reguliert, und kontrolliert dessen Freisetzung. Und es sondert sein eigenes Oxytocin ab, das Liebeshormon. Dieses wird ins Blut freigesetzt, beispielsweise wenn eine Mutter ihr Kind stillt, wenn ein Paar sich umwirbt oder auch bei einem Orgasmus.6 Alle diese Hormone wirken unmittelbar auf das Gehirn ein. Zu guter Letzt lässt das Herz den gesamten Organismus an den Veränderungen in seinem ausgedehnten elektromagnetischen Feld teilhaben, das man noch in einigen Metern Entfernung vom Körper nachweisen kann, dessen Bedeutung man jedoch noch nicht kennt.7 Man sieht also, die Bedeutung des Herzens für die Sprache der Gefühle ist nicht nur eine Metapher. Das Herz nimmt Dinge wahr und fühlt. Und wenn es spricht, beeinflusst es die Physiologie unseres gesamten Körpers, angefangen beim Gehirn.
Für die fünfzigjährige Marie waren dies nicht nur theoretische Überlegungen. Sie litt seit mehreren Jahren unter plötzlichen Angstanfällen, die sie immer wieder, gleichgültig, wo sie sich aufhielt, überkamen. Dann fing ihr Herz zu rasen an und klopfte viel zu schnell. Eines Tages überfiel sie auf einem Empfang ein plötzliches Herzjagen, und sie musste sich am Arm eines ihr Unbekannten festklammern, da die Beine ihr den Dienst versagten. Die Unsicherheit, wie ihr Herz sich aufführen würde, belastete sie sehr. Nach und nach schränkte sie ihre Aktivitäten ein. Seit dem Vorfall auf dem Empfang ging sie nur mehr in Begleitung guter Freunde oder ihrer Tochter aus. Aus Angst, ihr Herz könne sie »im Stich lassen«, wie sie es ausdrückte, fuhr sie nicht mehr allein über die Autobahn zu ihrem Landhaus. Marie hatte keine Ahnung, was diese Attacken auslöste. Es war, als beschließe ihr Herz unvermittelt, über irgendetwas, das ihr nicht bewusst war, ganz fürchterlich zu erschrecken; ihr Denken verwirrte sich, sie wurde unruhig und begann am ganzen Körper zu zittern.
Ihr Kardiologe hatte einen »Vorfall der Mitralklappe« diagnostiziert, eine meist harmlose Vorwölbung einer Herzklappe, deretwegen, so erklärte er ihr, sie sich keine Sorgen zu machen brauche. Er hatte ihr Betablocker empfohlen, um das Herzjagen zu unterdrücken, doch die machten sie müde, und sie bekam davon Albträume. Sie hatte sie daher eigenmächtig abgesetzt. Als sie zu mir in die Sprechstunde kam, hatte ich gerade im American Journal of Psychiatry einen Artikel gelesen, laut dem das Herz bestimmter Patienten gut auf Antidepressiva reagiert, so als hätten ungewollte Beschleunigungen des Herzschlags ihren Ursprung eher im Gehirn als in den Herzklappen.8 Leider hatte meine Behandlung auch kaum mehr Erfolg als die meines Kardiologenkollegen, und darüber hinaus war Marie sehr unglücklich über die Kilos, die sie nach Einnahme des Medikaments, das ich ihr verschrieben hatte, zugenommen hatte. Das Herz von Marie würde sich nur beruhigen, wenn sie lernte, es direkt zu bändigen. Fast hatte ich Lust zu sagen: »Wenn Sie mit ihm zu sprechen lernen.«
Die Beziehung zwischen dem emotionalen Gehirn und dem »kleinen Gehirn« des Herzens ist einer der Schlüssel zur emotionalen Intelligenz. Wenn wir – im buchstäblichen Sinne – lernen, unser Herz unter Kontrolle zu bringen, lernen wir, unser emotionales Gehirn zu zähmen und umgekehrt. Denn die engste Bindung zwischen Herz und emotionalem Hirn ist diejenige, die vom so genannten peripheren autonomen (vegetativen) Bereich des Nervensystems hergestellt wird, der das Funktionieren all unserer Organe reguliert und sich sowohl unserem Willen als auch unserem Bewusstsein entzieht.
Das autonome Nervensystem besteht aus zwei Strängen, die, ausgehend vom emotionalen Gehirn, alle Körperorgane anregen. Der als ›Sympathikus‹