DER UMGANG MIT STRESS
Bei Laborexperimenten ermöglicht die Kohärenz es dem Gehirn, schneller und präziser zu arbeiten.16 Im alltäglichen Leben empfinden wir dies als Zustand, in dem wir ganz natürlich und ohne jegliche Anstrengung auf Ideen kommen: Ohne lange nachzudenken, fallen uns die richtigen Worte ein, um das, was wir sagen wollen, zum Ausdruck zu bringen, und wir handeln zügig, effizient. In dieser Verfassung sind wir auch eher bereit, uns auf alles mögliche Unvorhergesehene einzustellen, da unser Körper sich in einem optimalen Gleichgewicht befindet, wir allem gegenüber offen und in der Lage sind, Lösungsmöglichkeiten für Probleme zu entwickeln. Kohärenz ist also kein Zustand der Entspannung im herkömmlichen Sinne des Wortes. Sie erfordert keine Absonderung von der Welt und auch keineswegs, dass um uns herum alles reglos, ja, nicht einmal, dass es ruhig ist. Im Gegenteil, sie entspricht einer Eroberung der Außenwelt, einem nahezu körperlichen Kontakt mit ihr, doch einem harmonischen, keinem konfliktgeladenen.
So stellten Forscher in Seattle im Rahmen einer Studie mit fünfjährigen Scheidungswaisen fest, wie wichtig ihr physiologisches Gleichgewicht für ihre künftige Entwicklung war. Auf Kinder, deren Pulsvariabilität vor der Scheidung am höchsten war – und die daher am besten in der Lage waren, in einen Zustand der Kohärenz zu gelangen –, hatte die Auflösung ihrer Familie eine weit geringere Auswirkung gehabt, wie man drei Jahre danach feststellte.17 Zudem hatten sie sich eine größere Fähigkeit bewahrt, Zuneigung zu entwickeln, mit anderen zusammenzuarbeiten und sich in der Schule zu konzentrieren.
Céleste hat mir sehr anschaulich beschrieben, wie sie den Herzrhythmus gezielt einsetzt. Als ihr im Alter von neun Jahren ein Wechsel in eine andere Schule bevorstand, geriet sie regelrecht in Panik. Etliche Wochen vor Schulanfang begann sie Nägel zu beißen, weigerte sich, mit ihrer kleinen Schwester zu spielen und stand nachts mehrmals auf. Auf Befragen erklärte sie ohne zu zögern, am meisten Lust zum Nägelkauen habe sie, wenn sie an die neue Schule denke. Doch dann lernte sie sehr schnell – wie dies bei Kindern oft der Fall ist –, durch Konzentration ihren Puls zu kontrollieren. Einige Tage später erzählte sie mir, der erste Schultag sei sehr gut verlaufen: »Wenn ich mich aufrege, gehe ich in mein Herz und rede mit der kleinen Fee darin. Sie sagt mir, dass alles gut gehen wird, und manchmal sagt sie mir sogar, was ich sagen oder machen soll.« Als ich das hörte, musste ich lächeln. Hätten wir nicht alle gern eine kleine Fee, die immer bei uns ist?
Der Begriff der Herzkohärenz und die Tatsache, dass man ohne weiteres lernen kann, sie zu kontrollieren, laufen allen überkommenen Vorstellungen hinsichtlich der Art und Weise zuwider, wie man am besten mit Stress umgeht. Chronischer Stress führt zu Angstgefühlen und Depression. Er hat, wie man weiß, auch negative Auswirkungen auf den Körper: Schlaflosigkeit, faltige Haut, Bluthochdruck, Herzklopfen, Rückenschmerzen, Hautprobleme, Verdauungsschwierigkeiten, Anfälligkeit für Infektionen, Unfruchtbarkeit, Impotenz. Schließlich beeinträchtigt er auch die sozialen Beziehungen und die beruflichen Leistungen: Reizbarkeit, Verlust der Fähigkeit, anderen zuzuhören, Nachlassen der Konzentration, Rückzug auf sich selber und Fehlen von Teamgeist – all diese Symptome sind charakteristisch für eine Überforderung, die ebenso aus Arbeit wie aus dem Gefühl resultieren kann, in einer festgefahrenen Beziehung zu stecken. Beides kostet uns viel Energie. In einer solchen Situation ist die gängigste Reaktion, sich auf die äußeren Gegebenheiten zu konzentrieren. Man sagt sich: »Wenn ich nur meine Situation ändern könnte, hätte ich einen viel klareren Kopf, und es ginge mir auch körperlich besser.« Gleichzeitig beißen wir die Zähne zusammen, warten auf das nächste Wochenende oder die Ferien und träumen von der besseren Zeit »danach«. Alles werde in Ordnung kommen, »wenn ich erst einmal die Schule abgeschlossen … wenn ich eine andere Stelle habe … wenn die Kinder aus dem Haus sind … wenn ich meinen Mann verlasse … wenn ich erst einmal in Pension bin« und so weiter. Leider läuft es nur selten so. Wahrscheinlich tauchen in anderen Situationen genau die gleichen Probleme wieder auf, und die Wunschvorstellung von einem Paradies, das gleich um die Ecke oder an der nächsten Kreuzung liegt, wird sehr schnell wieder zur Hauptmethode, mit Stress umzugehen. Unglücklicherweise geht das oft bis zu unserem Tod so weiter.
Aus Studien über die positiven Wirkungen von Kohärenz lässt sich der Schluss ziehen, dass man das Problem von der anderen Seite her angehen muss. Statt ständig zu versuchen, ideale äußere Bedingungen herzustellen, sollte man sich darauf konzentrieren, das Innenleben unter Kontrolle zu bringen: unseren Körper. Wenn wir das physiologische Chaos bändigen und uns um eine möglichst große Kohärenz bemühen, fühlen wir uns automatisch wohler; die Beziehung zu anderen, Konzentration, Leistung und deren Ergebnisse werden besser. Mit einem Mal sind die günstigen Umstände, hinter denen man ständig herläuft, von selber da. Und das ist beinahe eine Folgeerscheinung, eine sekundäre positive Auswirkung der Kohärenz: Sobald wir unser Innenleben unter Kontrolle haben, kann das, was aus der Außenwelt kommt, keine so massiven Auswirkungen mehr auf uns haben.
Das Computerprogramm zur Messung der Herzkohärenz wird auch zur Untersuchung des Herz-Hirn-Systems eingesetzt. Es kann Zweiflern beweisen, dass ihr Herz augenblicklich auf ihren Gefühlszustand reagiert. Doch auch ohne Computer ist es ohne weiteres möglich, sich in einen Zustand der Kohärenz zu versetzen und die positiven Auswirkungen auf das Alltagsleben unmittelbar zu spüren. Man muss nur lernen, die Kohärenz auch im Alltag zu leben.
I Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz, übers. von Grete und Josef Leitgeb. Düsseldorf, Karl Rauch Verlag, 1958
II Der Begriff »sympathisch« leitet sich aus der lateinischen Wurzel ab, die »in Beziehung stehend« bedeutet, da die Stränge des Nervensystems entlang der ganzen Wirbelsäule mit dem Rückenmark verbunden sind.
III Der Neurotransmitter des parasympathischen Systems ist das Acetylcholin.
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