Abbildung 2: Das Herz-Hirn-System – Das halbautonome Neuronennetz des »kleinen Gehirns des Herzens« ist eng mit dem eigentlichen Gehirn verbunden. Zusammen bilden sie ein regelrechtes »Herz-Hirn-System«, und beide beeinflussen sich ständig gegenseitig. Dabei kommt vor allem dem aus zwei Zweigen bestehenden autonomen Nervensystem große Bedeutung zu; der »sympathische « Zweig beschleunigt den Herzschlag und aktiviert das emotionale Gehirn, der »parasympathische« wirkt als Bremse.
Nach dem amerikanischen Forscher Stephen Porges hat eben dieses ausgeklügelte Gleichgewicht zwischen den beiden Strängen des autonomen Nervensystems es den Säugetieren ermöglicht, im Lauf der Evolution immer komplexere soziale Beziehungen einzugehen. Die vielschichtigste sei die Liebesbeziehung, vor allem die besonders schwierige Phase der Verführung. Wenn ein Mann oder eine Frau, die uns interessieren, uns ansieht und unser Herz zum Zerspringen klopft oder wir erröten, dann hat unser sympathisches System aufs Gaspedal gedrückt – vielleicht ein wenig zu fest. Wenn wir tief durchgeatmet und wieder einen einigermaßen klaren Kopf haben und das Gespräch ganz natürlich wieder aufnehmen, haben wir in Wirklichkeit auf die parasympathische Bremse gedrückt. Ohne diese ständigen Anpassungen wäre eine Annäherung weit schwieriger und unterläge zahlreichen Fehlinterpretationen, wie so oft bei Jugendlichen, die noch Schwierigkeiten haben, ihr Gleichgewicht zu wahren.
Das Herz nimmt jedoch den Einfluss des zentralen Nervensystems nicht nur hin, sondern schickt auch Nervenfasern zur Schädelbasis zurück, die die Aktivität des Gehirns kontrollieren.9 Außer über die Hormone, den Blutdruck und das Magnetfeld unseres Körpers kann das ›kleine Gehirn‹ des Herzens daher auch über direkte Nervenverbindungen auf das emotionale Gehirn einwirken. Und wenn das Herz aus den Fugen gerät, reißt es das emotionale Gehirn mit. Genau das passierte Marie.
Der unmittelbare Reflex dieses Kommens und Gehens zwischen dem emotionalen Gehirn und dem Herzen ist die normale Veränderung der Herzschlagfrequenz. Da die beiden Stränge des autonomen Nervensystems immer im Gleichgewicht zu sein versuchen, beschleunigen und verlangsamen sie den Herzschlag ständig. Deshalb ist das Intervall zwischen zwei aufeinander folgenden Herzschlägen nie gleich.10 Diese Veränderlichkeit ist an sich gesund, denn sie ist das Zeichen für ein gutes Funktionieren der Bremse und des Gaspedals, folglich unserer gesamten Physiologie. Mit den Herzrhythmusstörungen, an denen bestimmte Patienten leiden, hat dies nichts zu tun. Tachykardien (plötzliche Beschleunigungen des Herzschlags, die einige Minuten andauern) oder Herzjagen bei Angstanfällen sind Zeichen für eine anormale Situation, in der das Herz nicht länger der regulierenden Wirkung der parasympathischen Bremse unterliegt. Im anderen Extremfall, wenn das Herz ohne die geringsten Schwankungen mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms schlägt, ist das ein höchst gefährliches Zeichen. Geburtshelfer erkennen es als Erste: Bei einem Fötus spiegelt es während der Geburt eine möglicherweise tödliche Störung wider, die sie sorgfältig überwachen. Ebenso lässt es bei einem Erwachsenen darauf schließen, denn man weiß mittlerweile, dass das Herz erst einige Monate vor dem Tod mit einer solchen Regelmäßigkeit zu schlagen beginnt.
CHAOS UND ORDNUNG
Ich habe mein eigenes Herz-Hirn-System auf dem Bildschirm eines Laptop gesehen. Man hatte mir einen kleinen, mit dem Apparat verbundenen Ring über die Fingerspitze geschoben. Der Computer maß einfach das Intervall zwischen den aufeinander folgenden Herzschlägen am Ende meines Zeigefingers. War das Intervall ein wenig kürzer – hatte mein Herz schneller geschlagen –, verschob sich eine blaue Linie auf dem Monitor um eine Stufe nach oben. War es länger – hatte mein Herz sich ein wenig verlangsamt –, so neigte die Linie sich nach unten. Auf dem Bildschirm habe ich gesehen, wie die blaue Linie sich ohne ersichtlichen Grund im Zickzack von oben nach unten bewegte. Mit jedem Schlag passte mein Herz sich offenbar an irgendetwas an, doch es ließ sich keine Struktur in den Gipfeln und Tälern – wenn der Herzschlag sich beschleunigte oder verlangsamte – feststellen. Die Linie, die sich abzeichnete, ähnelte dem unregelmäßigen Kamm eines Gebirgszugs. Selbst wenn mein Herz im Durchschnitt 62-mal pro Minute schlug, konnte die Frequenz von einem Augenblick auf den anderen auf 70 ansteigen und dann auf 55 absinken, ohne dass ich wusste, warum. Die Technikerin beruhigte mich: Das sei die normale Variabilität der Herzfrequenz. Dann bat sie mich, Folgendes im Kopf auszurechnen: »Ziehen Sie 9 von 1356 ab und dann 9 von jeder Zahl, die Sie dabei erhalten …« Das erledigte ich ohne allzu große Schwierigkeiten, auch wenn es nicht gerade angenehm war, vor der kleinen Gruppe neugieriger Beobachter auf die Probe gestellt zu werden, die dieses System zum selben Zeitpunkt kennen lernten wie ich. Sofort wurde zu meiner großen Überraschung der Kurvenverlauf noch unregelmäßiger und chaotischer, und der durchschnittliche Puls kletterte auf 72. Pro Minute zehn Herzschläge mehr, nur weil ich mit ein paar Zahlen jonglierte! Wie viel Energie das Gehirn doch verschlingt! Oder lag es vielleicht an der Belastung, diese Berechnungen mit lauter Stimme vor einem Publikum durchzuführen?
Abbildung 3: Chaos und Kohärenz – Bei Stresszuständen, Angstgefühlen, Depressionen oder Zorn wird der Rhythmus des Pulses ungleichmäßig, »chaotisch «. Wohlbefinden, Mitgefühl und Dankbarkeit führen zu gleichmäßigen Pulsveränderungen, zur »Kohärenz«; der Wechsel zwischen Beschleunigung und Bremsen verläuft gleichmäßig.Kohärenz maximiert in einer gegebenen Zeit die Veränderung, führt zu größerer Variabilität und ist damit gesünder. (Die grafische Darstellung stammt aus dem am Hearth Math Institute in Boulder Creek/Kalifornien entwickelten Computerprogramm »Freeze-Framer«.)
Die Technikerin erklärte, die Kurve sei entsprechend der Beschleunigung meines Herzschlags immer unregelmäßiger geworden; dies sei eher ein Zeichen von Angst als das einer geistigen Anstrengung. Ich spürte jedoch nichts. Daraufhin forderte sie mich auf, ich solle mich auf den Bereich um mein Herz konzentrieren und mir eine angenehme oder glückliche Empfindung ins Gedächtnis rufen. Das überraschte mich. Normalerweise braucht man sich, um durch Meditation oder Entspannung einen Zustand innerer Ruhe zu erlangen, nichts Schönes vorzustellen, sondern soll nur möglichst an nichts mehr denken. Doch ich tat, worum sie mich gebeten hatte, und binnen weniger Sekunden war auf dem Bildschirm – welche Überraschung! – eine völlig andere Kurve zu sehen: anstelle unregelmäßiger, unvorhersehbarer Zacken sanfte Auf- und Abbewegungen, eine regelmäßige, sanftelegante Welle. Als schwanke mein Herz jetzt friedlich und gleichmäßig zwischen Beschleunigung und Abbremsung hin und her. Mein Herz wollte anscheinend sicherstellen, dass es – wie ein Sportler, der vor einer Übung die Muskeln an- und entspannt – beides kann, und zwar so oft es will … Wie ein Fenster unten auf dem Monitor zeigte, war in meinem Körper anstelle eines hundertprozentigen Chaos ein Zustand von 80 Prozent Kohärenz eingekehrt. Und dazu hatte es offenbar genügt, mich an etwas Angenehmes zu erinnern und auf mein Herz zu konzentrieren!
Im Verlauf der letzten zehn Jahre ist es gelungen, mit Hilfe von Computerprogrammen wie diesem zwei charakteristische Arten von Herzschlagschwankungen zu beschreiben: Chaos und Kohärenz. Meistens sind es nur mäßige und »chaotische« Schwankungen; Bremsen und Beschleunigen folgen ohne jedes System aufeinander. Ist die Variabilität hingegen ausgeprägt und stark, folgen Brems- und Beschleunigungsphasen