Ich hatte das Glück, einige junge Studenten am Harvard College auf diese Entdeckungsreise mitnehmen zu können. Ich hielt dort ein Seminar ab, das eigens zu dem Zweck konzipiert war, herauszufinden, wie man Rätsel nutzen kann, um die Geheimnisse des Universums zu veranschaulichen. Dieses Buch ist ein Ergebnis dieses Seminars und hat sehr von dem Feedback und den vielen Anregungen profitiert, die ich von meinen Studenten erhielt. Das Buch basierte ursprünglich auf den Notizen dreier Studenten – Tony Feng, Kewei Li und Weiming Zhao –, die von Steve Nadis noch wesentlich überarbeitet wurden. Einige Abbildungen verdanke ich Xiaotian Yin. Weiterhin danke ich einer Reihe von Kollegen und insbesondere Yaotian Fu und Brian Greene für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung des vorliegenden Buches. Ich bin sicher, dass es noch viele Möglichkeiten gibt, dieses Buch zu verbessern. Wenn Sie – die Leserinnen und Leser – Anregungen hierzu haben, würde ich mich freuen, diese über meine Webseite www.cumrunvafa.org zu erhalten.
Nicht zuletzt war es die Anregung meiner Frau Afarin, die mich veranlasste, das erwähnte Seminar zu entwickeln und im Anschluss daran dieses Buch zu schreiben. Ohne ihre Begeisterung für dieses Projekt würde das Buch nicht existieren. Ich danke ihr von ganzem Herzen.
Harvard, Mai 2020
Cumrun Vafa
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Eine kurze Einführung in die moderne Physik
Viele grundlegende Aspekte der Physik haben einfache mathematische Grundlagen, die aber hinter der Komplexität des mathematischen Formalismus verschwinden – sowohl hinter der ungewohnten Sprache als auch hinter den manchmal furchteinflößenden Gleichungen. Dasselbe gilt für viele abstrakte mathematische Ideen, die oft auf einfachen Gedanken beruhen, welche jedoch aufgrund ihrer komplexen Darstellung verdeckt werden. Tiefgehende Ideen in Physik und Mathematik haben oft einen gemeinsamen Kern, was angesichts der Nähe dieser beiden Disziplinen wenig überraschend ist. Überraschend ist jedoch die Tatsache, dass einige dieser gemeinsamen Gedanken während der Lösung mathematischer Rätsel auftauchen können.
In diesem Buch geht es um Rätsel und ihre Beziehungen zur Mathematik und Physik. Natürlich können Rätsel auch an und für sich faszinierend und unterhaltsam sein. Wir werden in diesem Buch aber vor allem sehen, wie sie als Brücke zwischen den Disziplinen dienen und einige der Verknüpfungen zwischen diesen offenbaren können. Zur Lösung der in diesem Buch vorgestellten Rätsel sind keine fortgeschrittenen Kenntnisse in Mathematik oder Physik erforderlich, und ich gehe auch nicht davon aus, dass Sie in einem dieser Fächer über einen tieferen Hintergrund verfügen. Ein intensives Interesse an diesen Themen sowie einige Grundkenntnisse wären aber sicher hilfreich, um von diesem Buch zu profitieren.
Obwohl Physik und Mathematik eng miteinander verflochten sind, sind ihre Kulturen und Philosophien doch sehr unterschiedlich. Die Mathematik baut auf fundamentalen Axiomen auf und entwickelt daraus mithilfe von logischen Schlussfolgerungen ihr Gedankengebäude. Physikalische Gesetze sollen erklären, wie verschiedene Aspekte der Natur funktionieren und wie die Naturgesetze zusammenpassen, sind aber nicht in hierarchischer Weise logisch voneinander abgeleitet. Die Physik betont eher die praktischen Beziehungen zwischen den Gesetzen als ihre logischen Abhängigkeiten. Natürlich ist der logische Zusammenhalt der Ideen aber ebenfalls ein notwendiger Bestandteil der physikalischen Gesetze. In der Mathematik ist es wichtig, sich jederzeit über die zugrunde liegenden Axiome und Annahmen im Klaren zu sein. Im Gegensatz dazu können sich die Axiome oder Grundprinzipien der Physik, wie wir bald sehen werden, jederzeit ändern, wenn neue Beweise oder theoretische Gedanken ans Licht kommen.
Die Geschichte zeigt, dass Fortschritte in der Physik häufig darauf zurückgehen, dass ein Gedanke, der zunächst als Folge eines physikalischen Gesetzes aufgefasst wurde, zu einem eigenständigen Prinzip erhoben wurde. Ein guter Physiker sollte daher immer offen sein für solche Neuformulierungen oder ,,Umwälzungen“, weil ein solches neu erkanntes Prinzip sich letztlich oft als grundlegender erweist und einen größeren Anwendungsbereich hat als das Gesetz, von dem es ursprünglich abgeleitet war. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Prinzip der Impulserhaltung. Es wurde zunächst als Folge der newtonschen Gesetze betrachtet, bevor man später – mehr als 225 Jahre nach der Vorstellung der newtonschen Gesetze in der Principia Mathematica – feststellte, dass die Erhaltungssätze grundlegender sind als die Bewegungsgesetze, weil sie auf die zugrunde liegenden Symmetrien der Natur zurückgehen.
Aus diesem Grund versuchen Physiker, sich eine flexible Einstellung zu der Frage zu bewahren, was genau die grundlegenden Prinzipien sind – eine Einschätzung, die sich ständig weiterentwickelt. Anstatt der hierarchischen Anordnung von Gedanken zu viel Wert beizumessen, sind Physiker bereit, die Anordnung jederzeit neu zu sortieren, was in völligem Gegensatz zu der Art und Weise steht, wie Mathematiker gewöhnlich die Mathematik betrachten. Ein mathematisches Theorem gilt, sofern es sich einmal als richtig erwiesen hat, als ewige Wahrheit – im Gegensatz zu physikalischen Prinzipien, die jederzeit Veränderungen unterworfen sein können, wenn neue empirische Erkenntnisse auftauchen.
Es gibt noch weitere Unterschiede. Zur Erklärung komplizierter Phänomene verwenden Physiker z. B. oft Näherungen, gegen die Mathematiker eine grundsätzliche Abneigung pflegen. Beispielsweise ist die Frage, ob der Raum ,,stetig“ ist, d. h. keinerlei Lücken enthält, oder aus nahe nebeneinander liegenden diskreten Punkten besteht, für Physiker, die sich mit den Ergebnissen von Experimenten auf wesentlich größeren Entfernungsskalen befassen, eher irrelevant. Für Mathematiker hingegen ist die Stetigkeit eines Raums oder ihr Fehlen ein zentraler und entscheidender Punkt und alles andere als irrelevant.
Das Ziel dieses Kapitels ist es, einen kurzen Überblick über die Welt der Physik zu geben. Es handelt sich dabei wirklich nur um einen kurzen und allgemeinen Abriss ohne Anspruch auf eine umfassende Darstellung, die im Rahmen eines einzigen Kapitels ohnehin unmöglich wäre. Stattdessen wollen wir einige Beispiele aus der Geschichte der Physik anreißen, die einen Eindruck davon vermitteln können, wo wir heute in unserem langjährigen Streben nach dem Verständnis der grundlegenden Naturgesetze stehen.
1.1 Die Anfänge der Naturwissenschaft in der Antike
Schon die Griechen versuchten zu verstehen, wie die Welt um sie herum funktionierte, und entwickelten dabei viele faszinierende Ideen über die Physik. Sie liebten die Eleganz der Mathematik und einige Gelehrte – unter ihnen Platon – glaubten, dass die letzte Wahrheit über die Welt in der Geometrie verborgen liege. Sie schätzten die Schönheit der euklidischen Geometrie und der platonischen Körper, von denen sie glaubten, sie könnten als Basis für die Beschreibung der Natur insgesamt dienen. Die meisten ihrer Gedanken zur Mathematik waren ihrer Zeit weit voraus, ihr Verständnis der Physik erreichte jedoch nicht dasselbe Niveau. Aristoteles glaubte z. B., dass Steine nach unten fallen, weil sie gerne auf der Erde liegen. Von allen möglichen Zuständen, argumentierte er, sei derjenige, auf dem Boden zu liegen, den Steinen der liebste. Daraus schloss er, dass Steine um so schneller fielen, je mehr sie sich dem Boden näherten, weil sie froh seien, ihrem natürlichen und bevorzugten Ruheplatz näher zu kommen.1)