Reise Know-How ReiseSplitter: Im Schatten – Mit dem Buschtaxi durch Westafrika. Thomas Bering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Bering
Издательство: Bookwire
Серия: ReiseSplitter
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783831752362
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Königskobras und Ersatzschlangen bei der Arbeit

      Wie viele Ausländer restaurieren sie die Riads – die traditionellen Wohnburgen mit ihren schattigen Innenhöfen und plätschernden Brunnen – oder erneuern die noch vorhandenen Gärten liebevoll. Die Nachtclubs der Stadt gehören zu den angesagtesten der Welt. Erste Cafés servieren Chai Soja Latte und Organic Food. Museen entstehen, Galerien sprießen aus dem Boden, sodass das Geographische Institut der Universität Mainz schon eine Musealisierung als „neo-orientalistische Stadt des Märchens“ beklagt und von der „Materialisierung des Mythos von Tausendundeiner Nacht“ spricht.

      Beim Abendessen auf einer Dachterrasse, mit Blick auf das nächtliche Treiben, treffe ich Seydou aus der Casamance im Senegal. Drei Jahre hat der junge zurückhaltende Kellner bereits in Guangzhous großer afrikanischer Community in Südchina gelebt. Deren Mitglieder schaffen alles, was China billig produziert, irgendwie nach Afrika. Seydous Ziel ist ein Job in Europa, in Frankreich vielleicht. China war ihm viel fremder als das Europa, das er aus dem Fernsehen kennt. Deshalb ist er zunächst nach Afrika zurückgekehrt. Natürlich muss er seine Familie in der Casamance unterstützen. Jetzt ist der attraktive Senegalese mit den großen Augen erst einmal Kellner in Marokko – in voller orientalischer Tracht und mit rotem Fez. Immerhin im ersten Haus am Platz. Wie es weitergeht? „Europa ist derzeit außer Reichweite“, sagt er verschmitzt. Mal sehen. Auf jeden Fall soll ich bei seiner Familie vorbeischauen, falls ich auf dem Weg nach Süden in der Casamance vorbeikomme. Seydou bleibt vorerst Teil des weltweiten Heeres von Wanderarbeitern und Billiglöhnern, die darauf angewiesen sind, immer dort zu arbeiten, wo es Jobs gibt. In Europa wäre er, wie wir so gerne abschätzig sagen, ein Wirtschaftsflüchtling. Wie man an Seydou sieht, kommen die – zur Überraschung vieler „Nationalkonservativer“ daheim – gar nicht alle nach Deutschland! Erstaunlich wenige Flüchtlinge emigrieren wirklich nach Europa, nur etwa 100.000 jährlich. Die meisten Flüchtlinge – aktuell knapp sieben Millionen – befinden sich in der Sub-Sahara-Region, viele davon sind Vertriebene im eigenen Land, die meisten anderen leben in Nachbarländern.

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      Alleinunterhalter mit einem interessanten Instrument

      Seydou jedenfalls gibt mir zu verstehen, dass er in Marokko gern gesehen ist und sich immerhin als Gastarbeiter und nicht als Bittsteller fühlt! Pendler, Wanderarbeiter, Gastarbeiter, Wirtschaftsflüchtlinge: Je nach Hautfarbe, nach Abstand zur Heimat oder politischem Zustand der Heimat, wandelt sich ihr Status im Gastland. Für unbeteiligte Betrachter dagegen verschwimmen die Begrifflichkeiten.

      Marrakesch sollte eine letzte Station vor der Tristesse der Sahara sein. Zu Besuch bei einer alten Liebe. Die Stadt hat sich definitiv verändert. Es gibt mehr Touristen, mehr Angebote. Ihre maghrebinische Seele hat sie aber noch nicht verkauft. Hoffentlich hat das den Menschen auch ein klein wenig mehr Wohlstand gebracht. Nach fünf Tagen in der Stadt breche ich am späten Nachmittag zu meiner längsten Etappe auf. Mit der 1.400 Kilometer langen Reise nach Dakhla in der Provinz Sahara lasse ich die letzten grünen Oasen Marokkos hinter mir.

      Schnell hat der Bus auf dem Weg nach Süden die Palmerie von Marrakesch verlassen und die steinigen Ebenen erreicht. Auch die werden schon bald von kargen braunen Hügeln abgelöst. Erst als die Nacht hereinbricht rückt die vegetationslose, scharf konturierte Gebirgskette des Anti-Atlas etwas näher. Wenn die Sonne wieder aufgeht, wird der Bus die Provinz Sahara, früher als Spanisch Westafrika oder Rio del Oro bekannt, bereits erreicht haben.

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      LAÂYOUNE & DAKHLA/MAROKKO, PROVINZ SAHARA ODER DEMOKRATISCHE ARABISCHE REPUBLIK SAHARA (DARS)

       Brennend heißer Wüstensand

       M6 besuchte gerade einen Hammam, als ihm ein Flaschengeist erschien. „Einen Wunsch hast du frei“, bot ihm der Geist an. „Ich möchte wirklich gerne noch einmal mit meinem verstorbenen Vater König Hassan II. plaudern.“ „Oh, einen Toten zum Leben zu erwecken, das ist ein schwieriger Wunsch“, entgegnete der Flaschengeist, „Hast du nicht noch einen anderen Wunsch?“ „Na ja, ich möchte auch gerne, dass die Westsahara ein Teil Marokkos wird“, sagte M6. „O.K., lehn dich einen Moment zurück, entspann dich. Ich schaue derweil, dass ich deinen Vater auftreiben kann!“

      Saharawi-Witz

      Langsam kriecht das fahle Märzlicht über den Horizont. Es ist acht Uhr morgens und immer noch saukalt, als der Bus Laâyoune, die größte Stadt der ehemals spanischen Sahara, immer noch mehr als 500 Kilometer von Dakhla, verlässt. In Laâyoune war kaum Zeit für einen Tee im Marmorpalast des modernen Busbahnhofs. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise lassen sich Fahrer und Passagiere eine solch gute Gelegenheit für eine anständige Mahlzeit auf einer Langstrecke nicht entgehen. Ich habe den Eindruck, dass man sich in dieser Unruheprovinz nicht länger als nötig aufhalten will. Der Bus hat sich nach Stopps in Agadir und Tan-Tan spürbar geleert. Das ist angenehm, denn ich kann mich über zwei Sitze fläzen. Trostlose, sandfarbene Ortschaften ducken sich alle paar hundert Kilometer unter dem grauen Dunst des Himmels, fade Bedeutungslosigkeit in einem Meer aus Schotter. Hier und da stehen ein paar Zelte im Nichts, ein Fischer an der Steilküste, selten ein paar stromernde Dromedare. Highlight sind ein paar Wüstenblumen an einer sandigen Böschung. Während die gleichförmige Landschaft am Fenster vorbeizieht, nähere ich mich langsam einem meditativen Zustand, tief in mir ruhend. Wenige Pixel im großen Wüstengemälde. Das Meer, wenn es zu sehen ist, wirkt wenig einladend. Meer und Himmel haben die gleiche milchige Farbe und verschmelzen miteinander, ohne dass der Horizont klar auszumachen ist. Die Kontrollen der Sûreté Nationale, der Staatspolizei, häufen sich inzwischen. Der Bus wird durchsucht, zum ersten Mal will jemand meinen Pass sehen.

      Pinkelpause in einem Café im Nirgendwo. Eine kaum frequentierte Tankstelle, durch die der Wüstenwind fegt, ein paar weißgetünchte Zementkästen, die das Café und ein paar winzige Motelzimmer beherbergen. Verschlafene Langeweile bis vielleicht einhundert schwer bewaffnete Polizisten der Sûreté Nationale per Jeep, SUV und in Bussen auf einen Kaffee eintrudeln. Zu den Aufgaben der Truppe, die für Marokkos innere Sicherheit zuständig ist, gehört die Grenzüberwachung und die Terrorismusbekämpfung. Sie besitzt mobile Interventionscorps und arbeitet eng mit den Moroccan Auxiliary Forces, einer paramilitärischen Einheit, zusammen. Ihre Ausrüstung erweckt nicht gerade den Eindruck, als würden sie Hühnerdieben nachstellen. Die Scheiben ihrer schicken SUVs sind vergittert. Die höheren Offiziere haben ihre Augen fast ausnahmslos hinter Sonnenbrillen versteckt. Ein surreales Frühstück zwischen schwer bewaffneten Uniformierten, die uns Busreisende völlig ignorieren, folgt. Der Colt muss nicht an der Bar abgegeben werden. Die Zivilisten senken verschüchtert Stimme und Blick, Gespräche verstummen. Fotos verboten. Mehr Kasernenkantine als Raststätte. Offensichtlich muss dieses Meer aus Sand und Steinen schwer gesichert werden.

      Die Provinz Sahara befindet sich offiziell in einer Art Schwebezustand. Hier, in Afrikas letzter Kolonie, schläft ein fast vergessener Befreiungskrieg, während Marokko Fakten schafft. Wie ist es möglich, sich über den Besitz eines derart trostlosen Landstrichs so sehr in die Haare zu kriegen, dass bislang schon über eine Milliarde Dollar in Frieden stiftende UN-Missionen versenkt werden musste?

      1884/85 bekamen die Spanier diese fast menschenleere Wüstenregion zugesprochen, die offensichtlich keine der anderen Kolonialmächte haben wollte. Nach vielversprechenden Phosphat-Funden verlangten Marokko und Mauretanien die Entkolonialisierung der Westsahara. Spanien blieb jedoch und so gründete sich 1973 die linksgerichtete POLISARIO und begann den bewaffneten Kampf der Saharawis gegen die spanische Herrschaft. Inzwischen hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag entschieden, dass die spanische Sahara bei Kolonialisierung kein herrenloses Territorium war, sondern sich in einer Treueeid-Beziehung Marokko unterworfen hatte. Mit diesem Urteil in der Tasche setzte der marokkanische König Hassan II. seinen lang gehegten Plan zur Einverleibung des Territoriums in die Tat um. Im November 1975 marschierten über 350.000 Menschen beim sogenannten „Grünen Marsch“, nur kärglich mit Koran und grünem Stern auf roter Fahne bewaffnet, über die