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Soweit sich die gerichtliche Kontrolle in einzelnen Rechtsordnungen darüber hinaus auf eine Überprüfung der Zweckmäßigkeit erstreckt[256] – so in Polen,[257] Schweden,[258] teilweise auch der Schweiz[259] oder Großbritannien[260] –, geht es eher um auf historischen Gründen beruhende Ausnahmen, die zwar auch einen Aspekt des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum ausmachen, für dessen verfassungsrechtliche Prägung jedoch nicht zentral sind.
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 8. Ausschluss und Beschränkung des Rechtswegs
8. Ausschluss und Beschränkung des Rechtswegs
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Von der Rücknahme der Kontrolldichte zu unterscheiden sind bereichsbezogene Ausnahmen oder Beschränkungen des Individualrechtsschutz gegenüber rechtsverletzendem Verwaltungshandeln. Sie sind in den einzelnen Rechtsordnungen in unterschiedlichem Umfang vorgesehen oder zugelassen.
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In Deutschland verbietet die vorbehaltlos gewährleistete Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG einen vollständigen Ausschluss des Rechtswegs;[261] da ein solcher Ausschluss auch ihren Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) berühren würde, ist er dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten.[262] Im Grundgesetz vorgesehene Ausschlüsse oder Beschränkungen des Rechtswegs finden sich nur vereinzelt, wobei es sich um punktuelle, jeweils auf besonderen Sachgründen beruhende und anderweitig kompensierte Ausschlüsse handelt.[263]
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Andere Verfassungen sind hier großzüger. So sieht etwa in der Schweiz Art. 29a Satz 2 BV vor, dass Bund und Kantone „durch Gesetz die richterliche Beurteilung in Ausnahmefällen ausschliessen“ können. Der Bundesgesetzgeber hat davon zwar selbst in Art. 32 VGG und Art. 83–85 BGG Gebrauch gemacht, andererseits aber weiteren Ausnahmen durch die Kantone enge Grenzen gezogen.[264] In Frankreich nimmt die Theorie der sog. actes du gouvernement nach wie vor bestimmte Entscheidungen der Exekutive von der gerichtlichen Kontrolle aus; allerdings schließt der Conseil d’État die insoweit bestehende Schutzlücke für von der Entscheidung Betroffene entweder mit der Annahme eines abtrennbaren justitiablen Aktes (sog. théorie des actes détachables) oder unter Rückgriff auf einen Gleichheitsverstoß.[265] In Spanien hat die Rechtsprechung des Tribunal Supremo dagegen die früher z.T. gesetzlich von der gerichtlichen Kontrolle ausgenommenen actos políticos durch eine verfassungskonforme Auslegung des Verwaltungsprozessrechts im Lichte von Art. 106 CE der gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Die Kategorie der actos políticos ist damit beseitigt.[266]
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Insgesamt haben Ausmaß und Intensität der gerichtlichen Kontrolle gegenüber der Verwaltung in den letzten Jahrzenten in ganz Europa zugenommen,[267] sowohl durch die Entfaltung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien als auch unter dem Eindruck der teilweise weitergehenden Anforderungen von Unionsrecht und EMRK.
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › VI. Verwaltungsrechtsschutz zwischen Rechtsstaats- und Demokratieprinzip in gemeineuropäischer Perspektive
VI. Verwaltungsrechtsschutz zwischen Rechtsstaats- und Demokratieprinzip in gemeineuropäischer Perspektive
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Konstitutionalisierung, Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsrechtsschutzes haben europaweit einen Ausbau des Rechtsschutzniveaus gegenüber der Verwaltung durch unabhängige Gerichte befördert – vornehmlich unter dem Blickwinkel des Individualschutzes. Verlaufen die nationalen Anpassungsprozesse im europäischen Rechtsraum mit Blick auf die Anforderungen des Unionsrechts und der EMRK auch nicht immer spannungsfrei – und auch nicht immer nur in Richtung auf einen höheren Rechtsschutzstandard, als ihn das nationale (Verfassungs-)Recht bislang gewährleistet –, ist doch eine weitreichende Angleichung der Systeme des Verwaltungsrechtsschutzes unverkennbar.
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Damit haben sich die unterschiedlichen Konzepte des Verwaltungsrechtsschutzes ein Stück weit relativiert. Das betrifft insbesondere die Frage der primär subjektiv-rechtlichen, d.h. dem Individualrechtsschutz dienenden, oder auf eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle zielenden Ausrichtung des Verwaltungsrechtsschutzes. Dabei darf mit Blick auf Frankreich und die seinem Modell mehr oder weniger folgenden Verwaltungsrechtsordnungen wie etwa Polen nicht übersehen werden, dass Individualrechtsschutz und objektive Rechtmäßigkeitskontrolle dort von vornherein nicht in einen Gegensatz gebracht, sondern als Einheit verstanden worden sind, indem der Einzelne – ohne dass es auf eine subjektive Betroffenheit ankäme, aber freilich gerade auch dann – die gerichtliche Überprüfung des Verwaltungshandelns auf seine Rechtmäßigkeit hin auslöst. Mag damit historisch – ungeachtet des grundsätzlich leichteren Zugangs zu den Gerichten – in der konkreten Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes ursprünglich ein niedrigeres Niveau an Individualschutz verbunden gewesen sein, so kann dies heute als weitgehend erledigt gelten.
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Deutschland erlebt mit seiner ausgeprägten Fixierung auf den Individualrechtsschutz im Hinblick auf die Modernisierung des Verwaltungsrechtsschutzes sowie seine Europäisierung und Internationalisierung hingegen Akzentverschiebungen in die entgegengesetzte Richtung.[268] Zwar hat der EuGH an der individualschutzzentrierten Grundausrichtung des deutschen Rechtsschutzsystems keinen Anstoß genommen;[269] dieses tut sich aber doch zunehmend schwer mit der Implementation unionsrechtlich und international induzierter Popular- und Verbandsklagen,[270] was zu mitunter grotesk wirkenden Konstruktionen führt.[271] Während der europäische und internationale Anpassungsdruck für andere Rechtsordnungen Triebfeder für den Ausbau des Individualrechtsschutzes war, ist er in Deutschland daher Anlass zu einer Perspektivenerweiterung und könnte auch Anstoß für einen weitergehenden Funktionswandel des Verwaltungsrechtsschutzes sein. Der Systementscheidung für den Individualrechtsschutz in Art. 19 Abs. 4 GG liegt die für das GG insgesamt prägende „liberale“ Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zugrunde,[272] d.h. die Vorstellung vom Bürger als gleichsam natürlichem Widerpart der Verwaltung, deren Eingriffe in seine Rechtssphäre er mit Hilfe (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes abzuwehren oder auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken sucht. Im Ausgangspunkt ist das für die grundgesetzliche Konzeption des Rechtsstaats sicher richtig und zeitlos gültig,[273] weil auch der demokratische Staat immer zum „Leviathan“ mutieren kann.[274] Die damit verbundene Rollenzuweisung