§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 6. Vorläufiger Rechtsschutz
6. Vorläufiger Rechtsschutz
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Ein effektiver Individualrechtsschutz erfordert ferner einen hinreichend wirkungsvollen vorläufigen Rechtsschutz.[222] Auch insofern geht es darum, dass das Rechtsschutzziel nicht während des gerichtlichen Verfahrens vereitelt wird und dass mit dem Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache ein irreversibler Verlust von Rechtspositionen droht.
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Zum Gebot wirksamen Eilrechtsschutzes gehört nach deutschem Verständnis, dass Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte grundsätzlich einen Suspensiveffekt entfalten und im Hinblick auf ein Unterlassen der Verwaltung (einstweilige) gerichtliche Regelungs- und Sicherungsanordnungen möglich sind.[223] Eine aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage kennt auch Österreich,[224] wo es jedoch – von Spezialregelungen für einzelne Bereiche abgesehen – noch immer an der Möglichkeit zum Erlass einstweiliger Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands fehlt.[225] Auch die Schweiz[226] geht vom Grundsatz der aufschiebenden Wirkung aus, auch wenn er dort in Teilbereichen (etwa im Beschaffungswesen) aus Gründen der Effizienzsteigerung und Beschleunigung in den letzten Jahren abgeschafft worden ist.[227]
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Die meisten Rechtsordnungen des europäischen Rechtsraumes sehen allerdings lediglich die Möglichkeit einer behördlichen oder gerichtlichen Aussetzung des Vollzugs von Verwaltungsmaßnahmen vor. Während ihnen ein allgemeiner Suspensiveffekt fremd ist,[228] sind die gerichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten mit Blick auf den Erlass einstweiliger Anordnungen, insbesondere was die Verpflichtung von Behörden zur Vornahme einer Handlung angeht, in den vergangenen Jahren vielfach ausgebaut worden.[229]
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Vor allem unter dem Druck der Europäisierung hat die nationale Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes etwa in Großbritannien[230] und Italien teils substantielle Erweiterungen,[231] teils aber auch einen Abbau von Rechtsschutzstandards erfahren. Das gilt insbesondere für die Einschränkungen des Suspensiveffekts bei Rechtsbehelfen gegen Verwaltungsakte in Deutschland wie für die Entscheidungsbefugnisse der Verwaltungsgerichte bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen, soweit es dort um den Vollzug von Unionsrecht geht.[232]
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 7. Gerichtlicher Kontrollauftrag und Kontrolldichte
7. Gerichtlicher Kontrollauftrag und Kontrolldichte
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Der Idee der Gewaltenteilung verpflichtet, sehen die europäischen Rechtsordnungen durchweg die Möglichkeit einer Überprüfung behördlichen Handelns durch unabhängige Gerichte vor. Dieser Kontrollauftrag ist eine notwendige Voraussetzung für die Gewährung von gerichtlichem Verwaltungsrechtsschutz. Er ergibt sich damit teils aus den ausdrücklichen Rechtsschutzgarantien,[233] teils ist er – wie in Spanien – aber auch als eigenständige Garantie formuliert (z.B. Art. 106 Abs. 1 CE neben Art. 24 Abs. 1 CE). Im Übrigen folgt er aus den das Rechtsstaatsprinzip prägenden Verfassungsnormen über die institutionelle und funktionale Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative und die Zuweisung gerichtlicher Zuständigkeiten. In Großbritannien gehört er zum Kern der rule of law.
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Die Wirksamkeit des Verwaltungsrechtsschutzes hängt maßgeblich von der Intensität der gerichtlichen Kontrolle ab: Je intensiver ein Gericht den Fall in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht überprüft, desto höher ist auch das Rechtsschutzniveau. Effektiver Rechtsschutz verlangt deshalb grundsätzlich eine vollständige gerichtliche Kontrolle in tatsächlicher[234] und rechtlicher Hinsicht[235] durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht. Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung muss sich grundsätzlich auf die im konkreten Fall einschlägigen Normen,[236] deren Gültigkeit,[237] die Bestimmung ihres Regelungsgehalts, die Tatsachengrundlagen und die Subsumtion erstrecken. Dabei besteht zwar immer auch das Risiko einer „fehlerhaften“ Rechtsauslegung und -anwendung durch das Gericht und eines tatsächlichen Versagens des Verwaltungsrechtsschutzes.[238] Dieses Risiko wohnt dem Rechtsprechungsauftrag jedoch notwendigerweise inne. Es ist in gewisser Weise sozialadäquat und von den Rechtsuchenden – vorbehaltlich eines verfassungsrechtlich oder einfach-gesetzlich eröffneten Instanzenzuges – bis zur Grenze der Willkür hinzunehmen.[239]
a) Rechtmäßigkeitskontrolle
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Vor diesem Hintergrund gehört die formelle und materielle Rechtmäßigkeit behördlicher Maßnahmen in allen Rechtsordnungen zum gerichtlichen Prüfungsmaßstab. Das gilt grundsätzlich auch für Frankreich. Zwar hält die Rechtsprechung beim recours pour excès de pouvoir hier nach wie vor an der traditionellen Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf bestimmte Aufhebungsgründe – Unzuständigkeit (incompétence), Form- und Verfahrensfehler (vice de forme et de procédure), materielle Rechtsfehler (violation de la loi) und Ermessensmissbrauch (détournement de pouvoir) – fest.[240] In der Sache hat diese Typologie aber freilich erheblich an Bedeutung verloren, sodass ungeachtet der – sich z.T. überschneidenden – Zuordnung zu einem der Aufhebungsgründe letztlich auch hier alle Fragen der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit der gerichtlichen Überprüfung unterliegen.[241]
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Mitunter führt allerdings nur die Verletzung wesentlicher Verfahrens- und Formvorschriften zur Aufhebung des angegriffenen Aktes. Das gilt sowohl für das stark an der Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit ausgerichtete Deutschland[242] wie für Frankreich[243] oder auch für Griechenland.[244] Das konterkariert den auf vielen Feldern unausweichlichen Rückgriff des Gesetzgebers auf die Prozeduralisierung und kollidiert typischerweise mit gleichsinnigen Vorgaben des Unionsrechts. Dezidiert anders verfahren daher – trotz vergleichbarer Betonung der individualschützenden Funktion des Rechtsschutzes – Großbritannien,[245] Portugal[246] und wohl auch Spanien.[247]
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Deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen bestehen auch in der Frage der gerichtlichen Überprüfung der behördlichen Sachverhaltsfeststellung. Während die Tatsachengrundlage in Deutschland uneingeschränkter gerichtlicher Prüfung unterliegt, sind die Gerichte in anderen Rechtsordnungen zu einer die behördlich festgestellte Aktenlage ergänzenden Beweiserhebung nur eingeschränkt berechtigt.[248] Spannungen zwischen Rechtsschutzgarantie und dem Grundsatz der Gewaltenteilung,[249] dem republikanischen Prinzip (Gemeinwohl) oder dem Demokratieprinzip[250] kann der Gesetzgeber freilich unterschiedlich auflösen.
b) Ermessen, unbestimmte