Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Georg Dederer
Издательство: Bookwire
Серия: Schwerpunkte Pflichtfach
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783811492813
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nationale Regelungen ausnahmsweise für eine Übergangszeit weiterhin angewandt werden dürften. Der EuGH wies zunächst darauf hin, dass ihm in Bezug auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts die Festlegung solcher Übergangsfristen unter gewissen Voraussetzungen erlaubt sei und dass dies analog auch für die vorliegende Konstellation gelte, dass aber im konkreten Fall keine zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit vorlägen, die eine vorübergehende Aussetzung rechtfertigen könnten (EuGH, Rs. C-409/06, Winner Wetten, Slg. 2010, S. I-8015 ff).

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      Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist prinzipiell ein absoluter und gilt nach der Rechtsprechung des EuGH gegenüber dem gesamten nationalen Recht, also auch gegenüber dem Verfassungsrecht einschließlich der Grundrechte und der Strukturprinzipien der Verfassung.

      Beispiele:

      (1) Der EuGH hat diesen absoluten Vorrang im Fall Internationale Handelsgesellschaft, in dem es um den Verfall der Kaution wegen einer nicht zur Gänze ausgeschöpften Ausfuhrlizenz für Maisgrieß ging, folgendermaßen begründet (EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, Slg. 1970, S. 1125 ff, 1135):

      „…Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden, denn dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt (Hervorhebung d. Verf.).“

      (2) Im Jahre 2000 entschied der EuGH, dass die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen nationalen Bestimmungen entgegenstehe, die Frauen allgemein vom Dienst mit der Waffe ausschließen (EuGH, Rs. C-285/98, Kreil/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 2000, S. I-69 ff). Die Richtlinie kollidierte dabei nicht nur mit gesetzlichen Vorschriften über das Wehrrecht, sondern auch mit dem damaligen Art. 12a Abs. 4 Satz 2 GG („[Frauen] dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten.“). Das Urteil führte zur Änderung des Art. 12a Abs. 4 Satz 2 GG, der heute lautet: „(Frauen) dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.“

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      Dieser absolute Vorrang war bis zum Vertrag von Lissabon (wenngleich nur implizit) auch positivrechtlich verankert. In dem zum (damaligen) primären Gemeinschaftsrecht (s. Rn 574) zählenden Protokoll Nr 30 zum EGV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit hieß es in Ziff. 2: „… dabei werden die vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze für das Verhältnis zwischen einzelstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht berührt …“. Zu diesen Grundsätzen gehört auch der vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelte absolute Vorrang. In dem durch den Vertrag von Lissabon geänderten Protokoll (jetzt Nr 2 zum EUV, AEUV und EAGV) ist diese Regelung nicht mehr enthalten. Das bedeutet aber keineswegs, dass sich dadurch etwas an der Rechtslage geändert hätte (s. Rn 92).

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      Der absolute Vorrang des Unionsrechts wird allerdings – nur rein faktisch gesehen – insofern relativiert, als seit dem Vertrag von Lissabon ein Austrittsrecht aus der EU vorgesehen ist (Art. 50 EUV). Ein Austritt aus der Gemeinschaft war vorher nach hL nicht möglich. Mithin kann sich nunmehr ein Mitgliedstaat dem absoluten Vorrang des Unionsrechts in freier souveräner Entscheidung entziehen, freilich nur um den Preis des Austritts aus der Union (BVerfGE 123, S. 267 ff, 395 f):

      „Der Vertrag von Lissabon macht erstmals das bestehende Recht jedes Mitgliedstaates zum Austritt aus der Europäischen Union im Primärrecht sichtbar (Art. 50 EUV-Lissabon). Dieses Austrittsrecht unterstreicht die Souveränität der Mitgliedstaaten und zeigt ebenfalls, dass mit dem derzeitigen Entwicklungsstand der Europäischen Union die Grenze zum Staat im Sinne des Völkerrechts nicht überschritten ist … Kann ein Mitgliedstaat aufgrund einer selbstverantworteten Entscheidung austreten, ist der europäische Integrationsprozess nicht unumkehrbar. Die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland hängt vielmehr von ihrem dauerhaften und fortbestehenden Willen ab, der Europäischen Union anzugehören. Die rechtlichen Grenzen dieses Willens richten sich nach dem Grundgesetz.“

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      Der Vertrag von Lissabon bietet rechtsdogmatisch aber noch einen weiteren Hebel, um die bisherige Doktrin vom absoluten Vorrang zu relativieren. Seit dem Vertrag von Lissabon hat die Union die Pflicht, die „nationale Identität (der Mitgliedstaaten), die in ihren grundlegenden … verfassungsmäßigen Strukturen … zum Ausdruck kommt“, zu achten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV). Wird darin die „unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität“ gesehen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 354), dann kann sich daraus die (eng begrenzte) Rücknahme des bislang vom EuGH erhobenen Anspruchs eines absoluten Vorrangs des Unionsrechts ableiten lassen, und zwar in dem Sinne, dass das Unionsrecht keinen absoluten Vorrang jedenfalls vor den „grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen“ der Mitgliedstaaten beansprucht. Tatsächlich hat das BVerfG zB angenommen, dass „die in Art. 2 EUV … normierten Werte … im Kollisionsfall keinen Vorrang gegenüber der von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV… geschützten … Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten beanspruchen (können)“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 397). Der EuGH hat mit Rücksicht auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV etwas später anerkannt, dass die „Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den (deutschen Bundes-)Ländern“ unionsrechtlich nicht in Frage gestellt werden kann (EuGH, Rs. C-156/13, Digibet und Albers, ECLI:EU:C:2014, Randnr 34).

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      Darüber hinaus könnte sich in der neuesten Rechtsprechung des EuGH eine Relativierung des absoluten Vorrangs des Unionsrechts – zumindest im Zusammenhang mit Straftaten – andeuten. Zunächst hatte er in der Rechtssache Taricco entschieden, dass die italienischen Verjährungsvorsschriften bei den die Mehrwertsteuer betreffenden Straftaten Art. 325 AEUV verletzen könnten, wenn sie ua eine wirksame und abschreckende Sanktionierung verhinderten. Nach italienischem Recht verlängert nämlich eine Unterbrechung der Verjährung der Strafverfolgung die Verjährungsfrist grundsätzlich nur um maximal ein Viertel. Dies könnte eine wirksame und abschreckende Sanktionierung ausschließen. In solchen Fällen müssten – so der EuGH – die nationalen Gerichte die Verjährungsvorschriften gegebenenfalls unangewendet lassen (EuGH, Rs C-105/14, Taricco ua, ECLI:EU:C:2015:555, Randnrn 49 ff). Dies stellte insofern eine Anwendung und damit Bestätigung der bisherigen Vorrangrechtsprechung dar, als nach italienischem Recht die Verjährungsvorschriften zum materiellen Strafrecht gehören und somit eine Kollision zwischen materiellem Unionsrecht und materiellem nationalen Recht vorlag. In solchen Fällen greift der Vorrang; anderenfalls würde es sich um ein Vollzugproblem handeln, bei dem materielles Unionsrecht mit nationalem Verfahrensrecht kollidiert (s. dazu Rn 105).

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      In der Rechtsache M.A.S. und M.B. (auch „Taricco II“ genannt) geht der EuGH nun allerdings davon aus, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten