Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Georg Dederer
Издательство: Bookwire
Серия: Schwerpunkte Pflichtfach
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783811492813
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europarechtliche Lösung geht davon aus, dass das Unionsrecht kein Völkerrecht ist. Aus der Tatsache, dass die Gründungsverträge ursprünglich völkerrechtliche Verträge gewesen seien, ließen sich keine rechtsdogmatischen Folgerungen hinsichtlich Geltungsgrund, Rechtsnatur oder Qualität des Unionsrechts ableiten. Entscheidend sei vielmehr die sich aus den Verträgen ergebende Struktur des Rechts. Diese Struktur aber sei anderen völkerrechtlichen Verträgen fremd. Daraus folge, dass das Unionsrecht eben nicht Völkerrecht sei.

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      In diesem Sinne hat der EuGH seit 1963 in seiner Rechtsprechung auf die Besonderheiten des (damaligen) Gemeinschaftsrechts hingewiesen und diese beschrieben. Man umschreibt diese Besonderheiten üblicherweise mit dem Begriff der Supranationalität (Rn 1159). Dies gilt auch für das heutige Unionsrecht.

      Beispiel:

      Das niederländische Unternehmen Van Gend & Loos klagte gegen einen Zollbescheid der niederländischen Finanzverwaltung. Das Unternehmen hatte 1960 Harnstoff-Formaldehyd aus der Bundesrepublik Deutschland in die Niederlande eingeführt und war dafür mit einem Wertzoll von 8% belegt worden. Diese Zollerhebung beruhte auf einer im März 1960 in Kraft getretenen Neuregelung des niederländischen Zolltarifs. Van Gend & Loos berief sich demgegenüber auf den damaligen (später aufgehobenen) Art. 12 EWGV, der wie folgt lautete: „Die Mitgliedstaaten werden untereinander weder neue Einfuhr- oder Ausfuhrzölle oder Abgaben gleicher Wirkung einführen noch die in ihren gegenseitigen Handelsbeziehungen angewandten erhöhen.“ Bei Inkrafttreten des EWGV am 1. Januar 1958 war in den Niederlanden die von Van Gend & Loos eingeführte Ware nur mit einem Einfuhrzoll von 3% belastet gewesen.

      Auf die Vorlage des in letzter Instanz entscheidenden niederländischen Gerichts nach Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) entschied der EuGH nicht nur, dass die niederländische Zollerhebung mit Art. 12 EWGV unvereinbar sei. Er stellte auch klar, dass sich ein einzelner Marktteilnehmer gegenüber einem nationalen Gesetz direkt auf Art. 12 EWGV berufen könne.

      Der EuGH begründete diese Möglichkeit eines Einzelnen, sich direkt auf Vorschriften des EWGV zu berufen, sofern diese unmittelbar anwendbar sind (s. Rn 579), mit der Eigenart der (damaligen) Gemeinschaftsrechtsordnung (EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1 ff):

      „(S. 24) (…) Das Ziel des EWG-Vertrags ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, daß dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. Diese Auffassung wird durch die Präambel des Vertrages bestätigt, die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet. Sie findet eine noch augenfälligere Bestätigung in der Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher Weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt. Zu beachten ist ferner, dass die Staatsangehörigen der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten dazu berufen sind, durch das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Funktionieren der Gemeinschaft beizutragen. Auch die dem Gerichtshof im Rahmen von Artikel 177, der die einheitliche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte gewährleisten soll, zukommende Aufgabe ist ein Beweis dafür, daß die Staaten davon ausgegangen sind, die Bürger müssten sich vor den nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen können.

      (S. 25) Aus alledem ist zu schließen, daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“

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      Diese in der Supranationalität liegende Besonderheit des Unionsrechts hat der EuGH in seiner folgenden Rechtsprechung immer wieder bestätigt und mehrfach präzisiert. Bezeichnete er im Urteil Van Gend & Loos (Rn 75) das (damalige) Gemeinschaftsrecht noch als „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“, so löste er es in seinem späteren Urteil Costa/E.N.E.L. aus dem Jahre 1964 (Rn 86) materiell vom Völkerrecht und sprach ihm als „eigener Rechtsordnung“ entsprechende Eigenständigkeit zu. In der Lehre spricht man deshalb auch von einem „Recht sui generis“.

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      Im Jahre 1986 ging der EuGH sogar noch einen Schritt weiter und stufte den (damaligen) EWGV als „Verfassungsurkunde“ ein (EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, S. 1339 ff, Randnr 23). In der Folge hat er dies mehrfach bestätigt und 1991 in seinem ersten Gutachten zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum ausgeführt, dass der (damalige) EWGV, „obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstelle (EuGH, Gutachten 1/91, Slg 1991, I-6079 ff, Randnr 21).

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      Allerdings gibt es gegen diese hL durchaus Einwände. Denn dass die früheren Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften sowie heute der EUV und der AEUV völkerrechtliche Verträge waren bzw sind, lässt sich nicht leugnen. Darauf hat auch das BVerfG immer wieder ausdrücklich hingewiesen (zB aus jüngerer Zeit BVerfGE 140, S. 317 ff, 338). Dass sie diesen Charakter später verändert haben, dass sie sich also von ihrem völkerrechtlichen Geltungsgrund gelöst haben sollen, ist – juristisch gesehen – nicht einsichtig. Diese Loslösung vom Geltungsgrund kann allenfalls ein soziologisches Phänomen sein, das eine weit fortgeschrittene Integration und eine grundlegende Änderung des Rechtsbewusstseins der Integrationspartner voraussetzt. Dies lässt sich aber beim gegenwärtigen Zustand der EU nur sehr bedingt behaupten, was insbesondere das Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa von 2004 gezeigt hat und was wohl auch dadurch bekräftigt wird, dass seit dem Vertrag von Lissabon jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 50 EUV aus der EU austreten kann. Letzteres war davor nach der hL nicht möglich.

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      Nicht ausreichend dürfte sein, dass das Unionsrecht – so wird von der hL zur Begründung angeführt – einmalige Besonderheiten aufweist. Denn erachtet man das Völkerrecht als dynamische Rechtsordnung, so sind atypische Regelungsmaterien und -konzepte nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches. Außerdem sind die Besonderheiten, auf die der EuGH in seiner Rechtsprechung hinweist (s. Rn 75, 86), im Völkerrecht nichts gänzlich Neues. Als Beispiel sei der Deutsche Zollverein von 1834 mit seinen unabhängigen Organen, Mehrheitsbeschlüssen und transformationslos geltenden Zollgesetzen genannt.

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      Schließlich spricht auch ein verfassungsrechtsvergleichendes Argument gegen die hL. Während Art. 24 Abs. 1 GG, der ursprünglich für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften galt, und Art. 23 GG, der nunmehr bezüglich der EU gilt (s. Rn 120 ff), wenig über deren völkerrechtlichen oder nichtvölkerrechtlichen Charakter aussagen, ist dies bei den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten keineswegs so. So sprechen zB Art. 49bis der luxemburgischen und Art. 92 der niederländischen Verfassung von „Institutionen des internationalen Rechts“ bzw von „völkerrechtlichen Organisationen“, denen Hoheitsrechte übertragen