Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Georg Dederer
Издательство: Bookwire
Серия: Schwerpunkte Pflichtfach
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783811492813
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– wie dargestellt – das Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung nicht mehr dem Völkerrecht zuzurechnen sei und daher die üblichen Lösungsversuche des Verhältnisses des Völkerrechts zum nationalen Recht nicht greifen.

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      Zum anderen stellt sie – teleologisch argumentierend – auf die Effektivität des Unionsrechts ab. Nur wenn in der EU das Unionsrecht einheitlich zur Anwendung komme, könnten die Ziele der Union erreicht werden. Daher müsse das Unionsrecht den Vorrang gegenüber jeder Art von nationalem Recht beanspruchen. Andernfalls könnte sich ein Mitgliedstaat durch den Erlass von Gesetzen oder Verfassungsnormen nachträglich seiner Verpflichtungen aus dem Unionsrecht entziehen und damit die einheitliche Rechtsanwendung insbesondere im Binnenmarkt beeinträchtigen. Verkürzt ausgedrückt bedeutet das: ohne Vorrang kein Binnenmarkt.

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      Etwas wechselhaft war die Rechtsprechung des EuGH zur Frage der Wirkung des Vorrangs. Man kann nämlich zwischen einem Geltungsvorrang und einem Anwendungsvorrang unterscheiden. Der Geltungsvorrang führt im Falle der Kollision zur Ungültigkeit (Nichtigkeit) der nachrangigen Norm, während der Anwendungsvorrang lediglich bewirkt, dass die nachrangige Norm zwar weiter existiert, aber unangewendet bleiben muss.

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      Nachdem der EuGH sich in mehreren Urteilen für einen Anwendungsvorrang ausgesprochen hatte (zB EuGH, Rs. 84/71, Marimex/Italienischer Finanzminister, Slg. 1972, S. 89 ff, Randnr 5), wählte er später in einem Fall eine Formulierung, die auf einen Geltungsvorrang hinzielte (EuGH, Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal, Slg. 1978, S. 629 ff, Randnr 17/18). Zu einer endgültigen Klarstellung im Sinne eines Anwendungsvorrangs kam es jedenfalls 1998, als der EuGH zu dieser scheinbar widersprüchlichen Rechtsprechung Stellung nahm (EuGH, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Ministero delle Finanze/IN.CO.GE ’90 ua, Slg. 1998, S. I-6307 ff):

      „(20) Der Gerichtshof war in der Rechtssache Simmenthal insbesondere danach gefragt worden, welche Konsequenzen sich aus der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ergeben, wenn diese einer später erlassenen Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht. Ohne zwischen früher oder später ergangenem Recht zu unterscheiden, hatte er jedoch bereits in seiner früheren Rechtsprechung (vgl insbesondere Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64, Costa, Slg. 1964, 1253) ausgeführt, daß es einem Mitgliedstaat verwehrt sei, einer innerstaatlichen Vorschrift Vorrang vor einer entgegenstehenden Gemeinschaftsnorm einzuräumen. So hat der Gerichtshof im Urteil Simmenthal entschieden, daß jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise zuwiderlaufende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet lässt (Urteil Simmenthal, Randnr. 21 und 24). Diese Rechtsprechung ist mehrfach bestätigt worden (vgl zB Urteil Debus, [Urteil in den verb Rechtssachen C-13/91 und C-113/91, Slg. 1992, I-3617, Anm. d. Verf.], Randnr. 32; Urteile vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-158/91, Levy, Slg. 1993, I-4287, Randnr. 9, und vom 5. März 1998 in der Rechtssache C-347/96, Solred, Slg. 1998, I-937, Randnr. 30).

      (21) Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann deshalb aus dem Urteil Simmenthal nicht hergeleitet werden, daß die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht dazu führt, daß diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale Gericht vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen (vgl Urteil vom 4. April 1968 in der Rechtssache 34/67, Lück, Slg. 1968, 364).“

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      Der Vorrang des Unionsrechts entspricht auch der Rechtsansicht der Mitgliedstaaten. In der Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon, die den Text des Vertrags von Lissabon angenommen hat (ABl. 2016, C 202, S. 344 [konsolidierte Fassung]), weist die Konferenz hinsichtlich des Vorrangs darauf hin, dass das Unionsrecht unter den in der Rechtsprechung des EuGH festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten habe. Außerdem beschloss die Konferenz, ein – in der Erklärung Nr. 17 wiedergegebenes – Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorrang vom 22. Juni 2007 der Schlussakte beizufügen. Dieses hat folgenden Wortlaut:

      „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs.“

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      Insgesamt gesehen herrscht mittlerweile Übereinstimmung darüber, dass der Vorrang des Unionsrechts ein Anwendungsvorrang ist, der nicht nur gegenüber früherem, sondern auch gegenüber später erlassenem nationalem Recht greift. Der EuGH hat im Übrigen selbst festgestellt, dass er nicht befugt sei, im Falle einer Kollision über die Nichtigkeit des nationalen Rechts zu entscheiden (EuGH, Rs. 237/82, Jongeneel Kaas/Niederlande, Slg. 1984, S. 483 ff, Randnr 6). Genau darauf aber würde ein Geltungsvorrang hinauslaufen. Beim Anwendungsvorrang hingegen bleibt das nationale Recht bestehen, kommt aber im Kollisionsfall nicht zur Anwendung.

      Beispiel:

      § 5 Abs. 2 Nr 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) sah vor, dass Auszubildenden mit ständigem Wohnsitz in Deutschland eine Ausbildungsförderung für eine Ausbildung im Ausland nur bei Fortsetzung einer mindestens einjährigen Ausbildung in Deutschland geleistet wird. Die deutsche Staatsangehörige Morgan wollte in Großbritannien ein Universitätsstudium beginnen, ohne vorher ein Jahr in Deutschland studiert zu haben. Der Antrag wurde dem § 5 Abs. 2 Nr 3 BAföG entsprechend abgelehnt. Dies aber stellte einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 21 Abs. 1 AEUV) dar (s. EuGH verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan und Bucher, Slg. 2007, S. I-9161 ff). Richtigerweise hätte nämlich bei Weitergeltung des § 5 Abs. 2 Nr 3 BAföG dieser hinsichtlich der Voraussetzung der vorgeschalteten einjährigen Ausbildung in Deutschland unangewendet bleiben müssen. Inzwischen wurde das BAföG geändert und diese Voraussetzung gestrichen.

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      Durchbrochen wird dieser Anwendungsvorrang allenfalls dann und nur vorübergehend, wenn bei Vorliegen einer Kollision zwischen einer Rechtsvorschrift des Unionsrechts und nationalem Recht zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit ausnahmsweise zu einer vorübergehenden Aussetzung der Verdrängungswirkung des Anwendungsvorrangs führen. Klar ist allerdings, dass über das Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen nur der EuGH entscheiden kann.

      Beispiel:

      Diese Frage stellte sich in einem Verfahren vor dem VG Köln, in dem es um die Untersagung der Ausübung der Tätigkeit als Sportwettenanbieter ging. Hintergrund waren zwei Urteile des BVerfG aus dem Jahre 2006, wonach das Sportwettenmonopol in Bayern und in Nordrhein-Westfalen gegen die Berufsfreiheit des Art. 12 GG verstoße. Allerdings entschied das BVerfG, die fraglichen Rechtsvorschriften nicht für nichtig zu erklären, sondern bis zum 31. Dezember 2007 fortbestehen zu lassen, um dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu einer verfassungskonformen Lösung zu geben.

      Das VG Köln war der Meinung, aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ergebe sich, dass die Untersagung einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit