„Strukturelle Unsicherheit“ erfordert Evaluation
Gerade in der Sozialen Arbeit sind die Organisationen und die in ihnen tätigen Fachkräfte zur Aufrechterhaltung von Professionalität in besonderer Weise angewiesen. Denn die Struktur der Anforderungen, mit denen Organisationen und Fachkräfte konfrontiert werden, ist elementar durch das Merkmal „Unsicherheit“ geprägt. Organisationen der Sozialen Arbeit müssen Hilfepotenziale organisieren für Situationen, deren Umrisse die Akteure zwar kennen, die aber in den konkreten Einzelfällen stark divergieren. Häufig ist zu Beginn einer Hilfe nicht einmal das Problem eindeutig bestimmbar; es kann in mehreren Interpretationen verstanden werden, muss als Problemdefinition zwischen verschiedenen Beteiligten ausgehandelt werden, und auch dann bleibt die Problemdefinition immer noch eine vorläufige Hypothese, die im Hilfeverlauf immer wieder überprüft werden muss (beispielhaft an der Hilfeplanung bei den Erziehungshilfen vgl. Merchel 2006). Routinehandeln ist dementsprechend in der Sozialen Arbeit nur in engen Grenzen möglich. Routinehaftigkeit bei den Handlungsvollzügen ist meist schädlich, weil dadurch die erforderliche Individualität und Flexibilität in der Hilfegestaltung verloren gehen. Die Akteure der Sozialen Arbeit müssen sich bewusst sein, dass bei einem Großteil ihrer beruflichen Aufgaben „die sinnhaften Handlungsentwürfe, die das Handeln orientieren, sich zeitlich auch in Ungewissheit, sozial auch in der Fremde und sachlich auch im Unbestimmten bewegen“ (Hörster 1995, 38). Professionalität in der Sozialen Arbeit bedeutet somit auch, kompetent mit Unsicherheit umgehen und dabei eine eigene, durch Sensibilität, Aufmerksamkeit und Reflexion geprägte Handlungssicherheit gewinnen zu können. Zur Bewältigung dieser partiell paradoxen Anforderung, eine begrenzte Handlungssicherheit in einem strukturell durch Ungewissheit geprägtenAnforderungsfeld herauszubilden, hat Evaluation ihren Stellenwert als methodische Reflexionshilfe. Evaluation kann helfen, einen Teil von Ungewissheit zu absorbieren, ohne dies gleich mit überzogenen und daher trügerischen Gewissheitserwartungen zu verwechseln.
Professionelle Haltung
Offenheit gegenüber Evaluation und das aktive Streben nach Evaluation sind als Bestandteil einer „professionellen Haltung“ zu proklamieren. Die Bereitschaft, den Nutzen des eigenen Handelns zu überprüfen, stärkt die professionelle Autonomie. „Sie ermutigt dazu, Schwächen nicht zu verstecken, sondern die Bedingungen zu benennen, unter denen sie entstehen und abgebaut werden können.“ (Müller 2000, 230) Akteure mit einer solchen professionellen Haltung versprechen sich von Evaluation „wertvolle Daten“. Dies sind solche Daten, „die genauere Beschreibungen zulassen, die unterschiedliche Perspektiven sichtbar machen, die komplementäre Sichtweisen (insbesondere zwischen professionellen Dienstleistungen und ihren Adressaten)“ in einen Dialog miteinander bringen (Müller 2000, 230). In diesem Sinne stellt Evaluation nicht nur Methoden und Instrumente zur Professionalisierung Sozialer Arbeit zur Verfügung, sondern das der Evaluationzugrunde liegende Prinzip des Überprüfens und Bewertens mittels systematischer Informationssammlung markiert ein wichtiges Element einer „professionellen Haltung“ und ist somit als ein Bestandteil von Professionalität in der Sozialen Arbeit anzusehen. Evaluation ist nicht nur ein Reflex der Anforderungen von außen, mit denen Organisationen und Fachkräfte konfrontiert werden, sondern ist als ein weiterer Baustein in der „inneren Professionalisierung“ der Sozialen Arbeit zu interpretieren.
2.4 Zusammenfassung in Leitsätzen und Fragen zur Analyse der Erwartungen an eine Evaluation
Rationalitätsgewinn in Zeiten der Ressourcenknappheit
• Dass Evaluation eine zunehmende Bedeutung erhalten hat und weiterhin erhält, verweist auf den Bedarf an verbesserter Orientierung in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen und zunehmender Ressourcenknappheit. Bei sich ausweitenden und dynamisch verändernden sozialen Problemsituationen, die auf knappe oder reduzierte Ressourcen treffen, bemüht man sich verstärkt um Verfahren einer rationalen Entscheidungsfindung. Von Evaluation erhofft man sich einen solchen Rationalitätsgewinn zum Zweck der verbesserten politischen, fachbezogenen und administrativen Steuerung.
Professionelle Handlungsstrukturierung
• Die wachsende Bedeutung von Evaluation verweist auch auf Verunsicherungen in der Profession selbst und auf ein Bedürfnis nach stärkerer Strukturierung der Arbeit. Evaluation bietet Hilfsmittel zur Reflexion und zur Handlungsstrukturierung sowie in der Folge eine verbesserte Legitimation der Profession.
Funktionen
• Der Evaluation werden vier zentrale Funktionen zugeschrieben: Erkenntnisgewinne für Steuerungsentscheidungen, Kontrolle, Förderung von Entwicklungen und die Legitimation durchgeführter Maßnahmen. Evaluationen erhalten ein Profil durch die Entscheidung darüber, welcher dieser vier Funktionen Priorität zugesprochen werden soll. Ohne eine funktionsbezogene Profilentscheidung drohen Evaluationen an ausgeweiteter Komplexität oder an Widersprüchen und zu großen Spannungen zwischen den einzelnen Funktionen zu scheitern.
Verbindung von Evaluation und Entscheidung
• Die vier Funktionen laufen in der zentralen Anforderung an Evaluation zusammen: Informationen bereitstellen für praktisch folgenreiche Entscheidungen. In der Verbindung von Evaluation und Entscheidung zeigen sich der verwertungsorientierte Charakter und die organisationale Eingebundenheit von Evaluation.
Notwendige Offenheit gegenüber Evaluation
• Ohne Evaluation bleibt das Handeln in professioneller Hinsicht lückenhaft, es zeigt Einbußen an Professionalität. Die strukturell mit Unsicherheit und Ungewissheit verbundenen Aufgaben in der Sozialen Arbeit erfordern eine Offenheit gegenüber Evaluation und ein aktives Streben nach Evaluation als Teil einer professionellen Haltung.
Evaluation als wertgeprägter Vorgang
In der bisherigen Darstellung dürfte deutlich geworden sein, dass und in welcher Intensität Evaluation von Wertsetzungen durchzogen ist. Die Wertprägung von Evaluation zeigt sich nicht nur in der Bewertungsdiskussion zum Gegenstand der Evaluation, die aus den Evaluationsergebnissen folgt, sondern wertende und mit Interessen verbundene Entscheidungen fallen bereits bei Funktions- und Zielbestimmung der Evaluation an. Sie durchziehen den gesamten weiteren Evaluationsprozess von der genauen Konturierung des Evaluationsgegenstandes über die Formulierung der zentralen Evaluationsfragestellung und die Auswahl der Datenerhebungsmethoden bis hin zur Entscheidung darüber, in welchen Konstellationen und vor welchem Publikum die Evaluationsergebnisse präsentiert werden sollen. Bei der Konzipierung einer Evaluation sollten daher die Erwartungen, Interessen und Wertbezüge der mittelbar und unmittelbar Beteiligten transparent gemacht werden. Das Bemühen um eine diesbezügliche Transparenz erleichtert Erörterungen und Entscheidungen für ein realistisches, die Risiken und Chancen abwägendes Evaluationskonzept. Folgende Fragen können für die Analyse von Erwartungen, Interessen und Werthaltungen hilfreich sein:
• Sind diejenigen, die ein Interesse an der Evaluation haben oder die an der Evaluation mittelbar oder unmittelbar beteiligt sind, eher an einer Legitimation oder eher an einer kritischen Aufarbeitung und Qualitätsentwicklung interessiert? Bestehen diesbezüglich bei den Beteiligten Interessendivergenzen oder unterschiedliche Interessenpositionen?
• Welche der vier genannten Funktionen von Evaluation steht bei welchem Interessenträger im Vordergrund