Und die Zukunft? Wo bleibt bei all den Vergangenheitsbezügen der Gegenwart, dieser „Übersättigung einer Zeit in Historie“ (Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich), eigentlich die Zukunft? Der Philosoph Sir Karl Raimund PopperPopper, Karl Raimund (1902–1994) hat gegenüber teleologischen Ansprüchen der Geschichtsphilosophie proklamiert: „Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig“ (Popper 1945, 5). Gegenüber dieser normativ gesetzten Freiheit des Menschen, seine Zukunft selbst zu gestalten, betont das Erinnerungsparadigma unsere Abhängigkeit von der Vergangenheit – überlagert sie unsere Zukunftsvorstellungen inzwischen bereits? Der Befund ist nicht eindeutig. Der Publizist und frühere Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Joachim FestFest, Joachim (1926–2006) urteilte noch 2004 über das deutsche GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein: „Deutschland hat einerseits Angst vor dem Neuen, und andererseits ist es völlig geschichtslos. Das Gestern hat in Deutschland keine Anwälte, nicht erst seit HitlerHitler, Adolf. Die Deutschen haben sich stets in irgendwelche Zukünfte hineingeträumt, aber die sind ihnen durch den Zusammenbruch der Ideologien und Utopien genommen. Jetzt leben sie nur noch in der Gegenwart“ (Amend 2004). Und „Die Zeit“ konstatierte ein Jahrzehnt später: „Alles, wirklich alles dreht sich zurzeit um die Zukunft der Herkunft! Das heißt aber: Wir sind dabei, den Begriff der Herkunft inflationär zu verwenden. Tag für Tag verliert er an Wert. Bald wird er weiter nichts sein als ein Gespenst der Vergangenheit“ (Das kommt davon. In: Die Zeit, 11.12.2014). Auch der Sozialpsychologe Harald WelzerWelzer, Harald (2012, 34f.) sieht in der deutschen ErinnerungskulturErinnerungskultur die Tendenz zu „einer ‚Memorymania‘ (A. Assmann), in der Vergangenes nicht auf seinen Gebrauchswert hin befragt, sondern an sich für erinnernswert gehalten wird.“ Diese „Zukunftsvergessenheit“ definiert Welzer als „eine seltsam indifferente Haltung allem gegenüber, was Zukunftsbewältigung sein könnte“. Die Vergangenheit bekomme demnach ein solches Gewicht, dass sie – im Sinne des Eingangszitats von AugustinusAugustinus – die Gegenwart dominiere und die Zukunft dezimiere.
Gewarnt wird also nicht nur vor der banalisierenden Aushöhlung des Vergangenheitsbezugs, beklagt wird auch der zunehmende Verlust an Fortschrittsglauben und Utopien. Der Kulturhistoriker Thomas MachoMacho, Thomas fragt angesichts der Gedächtniskonjunktur, wie viel Zukunft wir eigentlich überhaupt noch der Zukunft geben: Was wird kommen, was bringt die Zukunft? Diese Fragen würden wir gar nicht mehr stellen, während sich alle Kulturen stets auch in ihrem Umgang mit der Zukunft konstituiert hätten: durch ihre Techniken der Voraussage, der Planung, der Prognostik (Macho 2007; siehe auch Mayer/Pandel/Schneider 2000, 260–269). Der Historiker Paul NolteNolte, Ernst (2003, 28) empfahl deshalb bereits Anfang des Jahrtausends, als der gesellschaftliche Reformstau der Nachwende-Ära die Debatten prägte, der übermäßigen Historisierung Grenzen zu setzen und sich, statt Vergangenheit als Zukunft zu präsentieren, wieder dem Gegenwartsprojekt der Gesellschaftsreform zuzuwenden. Diese Mahnung von Wissenschaftsseite hat die Politik erreicht. 2014 eröffnete BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim den 50. Historikertag mit der bemerkenswerten rhetorischen Frage, ob die Geschichte nicht dabei sei, über die Gegenwart und über die Zukunft zu siegen? „Wo ist nur die Zukunft hin?“, fragte ein angesichts der unaufhörlichen Konfrontation mit der Geschichte, mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen, Denkmälern oder Denkmalplanungen verunsicherter Bundespräsident in seinem eindrücklichen politischen Plädoyer dafür, sich nicht nur der Vergangenheit zu stellen, sondern auch die Zukunft zu gestalten (Gauck 2014). Doch ein Ende des Vergangenheitsbooms ist nicht in Sicht, im Gegenteil.
Weiterführende Literatur
Dimbath/Wehling 2011: Oliver Dimbath/Peter Wehling (Hrsg.), Soziologie des VergessensVergessen: Konturen, Themen und Perspektiven (Konstanz 2011).
MeierMeier, Christian 2010: Christian Meier, Das Gebot zu VergessenVergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit (München 2010).
NietzscheNietzsche, Friedrich 1893: Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen (Berlin 20143) 59–118 [Erstdruck: Leipzig 1893].
3 Zur Zukunft des Gedenkens – neue Herausforderungen der GeschichtspolitikGeschichtspolitik
Gesellschaften und mit ihnen Erinnerungsgemeinschaften befinden sich im steten Wandel. ErinnerungskulturErinnerungskultur(en) und auch das öffentliche Gedenken sind deshalb nie statisch. In einem sich verändernden sozialen Bezugsrahmen durch Generationenwechsel sowie die Dynamik sozialer und politischer Umbrüche verlieren historische Epochen an geschichtspolitischer Relevanz, dafür rücken andere neu oder mit modifizierten Fragestellungen in den Fokus. Drei solcher grundlegenden Wandlungsprozesse und ihre geschichtspolitischen Implikationen werden im Folgenden exemplarisch vorgestellt (siehe dazu auch Zukunft 2010). Denn den damit verbundenen Herausforderungen wird sich absehbar jeder stellen müssen, der sich in der Politik aktiv am erinnerungskulturellen Diskurs beteiligen will.
3.1 Das Ende der NS-Zeitzeugenschaft
Geschichtsschreibung stützt sich auch auf Selbstzeugnisse von Menschen, dazu gehören Tagebücher, Briefe, Memoiren, Gerichtsaussagen und andere mehr. Die Aussagen des ZeitzeugenZeitzeuge unterscheiden sich von diesen historischen Quellen grundlegend, da sie nicht aus der Zeit stammen, sondern erst später verfasst werden. Der Begriff Zeitzeuge hat seine Ursprünge in den 1970er Jahren. Er ist eng mit der Oral history (→ Glossar) verknüpft (siehe Sabrow 2012). Sein Aufstieg hat vor allem mit der veränderten medialen Vermittlung von Geschichte zu tun, vor allem im Fernsehen, wo der Authentizität versprechende Zeitzeuge längst den geschichtliche Sachverhalte beglaubigenden Historiker ergänzt, wenn nicht sogar verdrängt hat.
Mit dem ZeitzeugenZeitzeuge rückt gegenüber schriftlichen Selbstzeugnissen das Interview ins Zentrum, das sich durch die körperliche Präsenz des Erzählers auszeichnet. Martin SabrowSabrow, Martin (2012, 13) beschreibt den erzählenden Zeitzeugen bildlich als Wanderer zwischen der Welt der Vergangenheit und der Gegenwart und definiert ihn in Abgrenzung zum Tat- oder Augenzeugen: „Der Zeitzeuge […] beglaubigt nicht so sehr außerhalb seiner selbst liegende Geschehnisse, wie dies der klassische Tat- und Augenzeuge tut; er konstituiert vielmehr durch seine Erzählung eine eigene Geschehniswelt.“ Er bestätige weniger durch sein Wissen fragliche Einzelheiten eines sich häufig ohne sein Zutun abspielenden Vorgangs, sondern dokumentiere durch seine Person eine raumzeitliche Gesamtsituation der Vergangenheit: Er „autorisiert eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit von innen als Träger von Erfahrung und nicht von außen als wahrnehmender Beobachter.“
Der Bedeutungsgewinn des ZeitzeugenZeitzeuge ist untrennbar mit der AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der nationalsozialistischenNationalsozialismus Vergangenheit verbunden. Anfänglich diente er einer ‚Gegengeschichte‘ von unten: gegen die Fixierung auf die Täter durch die Übermacht ihrer schriftlichen Überlieferung in Form von Akten, gegen abstrakt-theoretische Erklärungen, gegen Distanzierungsbestrebungen, wie sie der Begriff ‚VergangenheitsbewältigungAufarbeitung‘ (→ Kapitel 6.1) suggeriert. Diese ursprünglich kritische Funktion büßte der Zeitzeuge jedoch in seinem medialen Siegeszug