Die Geschichtswissenschaft reagiert auf die genannten Prozesse mit unterschiedlichen Konzepten, denen gemeinsam ist, dass sie Alternativen zur national fokussierten Geschichtsschreibung aufzeigen. Dazu gehört die Globalgeschichte und Postkolonialgeschichtsschreibung; besonders wirkmächtig, jedenfalls begrifflich einprägsam und in der Öffentlichkeit stärker rezipiert ist die transnationale Geschichte (siehe Budde/Conrad/Janz 2006). Sie ist nicht als Antithese zur konventionellen Nationalgeschichte zu verstehen, sondern „umfasst all das, was jenseits (und manchmal auch diesseits) des Nationalen liegt, sich aber auch durch dieses definiert – sei es, dass es sich daraus speist oder davon abgrenzt, dass es das Nationale erst konstituiert oder dass es sich um wechselseitige und dynamische Konstruktionsprozesse zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen handelt.“ (Patel 2005)
Was sind die geschichtspolitischen Implikationen? Hier steht zweierlei im Fokus: erstens die Auswirkungen der europäischen Integration auf die nationalen Erinnerungsgemeinschaften, also in wie weit sich die nationale Perspektive europäisiertEuropa; und zweitens die Schaffung einer gemeinsamen, historisch begründeten europäischen Identität, dass also neben die nationale Perspektive eine spezifisch europäische tritt.
Hinsichtlich der Auswirkungen der europäischen IntegrationEuropa auf nationale Erinnerungsgemeinschaften zeigt sich, dass die konkurrierenden nationalen Geschichtserzählungen mit dem europäischen Einigungsprozess einen neuen, gemeinsamen Fluchtpunkt erhalten haben. Stärker noch als in anderen Staaten ist dies in Deutschland der Fall, wo die Erfahrung des NationalsozialismusNationalsozialismus zum Bruch mit überkommenen nationalen Traditionen und Mythen geführt hat. Mehr als das: Die Nation an sich galt nach den Schrecken, die von Deutschen und im Namen einer vermeintlich deutschen Kulturüberlegenheit ausgegangen sind, als desavouiert. Die Bundesrepublik verstand sich nicht zuletzt angesichts ihres Sonderstatus durch die eingeschränkten Souveränitätsrechte als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ (Bracher 1979, 544). Stärker als anderswo bedeutete der Weg in die europäische Integration die Flucht aus einer beklemmend empfundenen nationalen Geschichte. Es gehört zu den historischen Merkwürdigkeiten, dass 1990 die Europäisierung der Bundesrepublik, die mit der Westbindung (→ Glossar) eine eigene politische MythosMythos, politischererzählung gefunden hat, den Deutschen den Weg zur Wiedervereinigung öffnete und damit zugleich die Grundlagen für ein unbefangeneres Verhältnis zur eigenen Nation legte. Deutschland ist heute ein „postklassischer demokratischer Nationalstaat“ (Winkler 2000, 638) wie die anderen europäischen Staaten auch, die Teile ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben oder auf supranationale (→ Glossar) Einrichtungen übertragen haben. In Deutschland verzichtet kaum noch eine historische Ausstellung auf EuropaEuropa als Deutungsrahmen oder Kulminationspunkt der nationalen Erzählung, so wie fast jede Gedenkrede wenigstens an einer Stelle die europäische Perspektive einnimmt. Beispielhaft für diesen Trend ist die zentrale deutsche Schau anlässlich des 150. Jahrestages der Revolution von 1848/49Revolution von 1848 in Frankfurt am Main: Sie gipfelte 1998 in der Präsentation des Maastricht-Vertrages. Beim offiziellen Gedenken an den Ausbruch des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg dominierte 2014 in Deutschland ein Deutungsmuster, bei dem der Weltkrieg vor allem als Ausgangspunkt für die Erzählung gelungener Gewaltüberwindung im vereinten Europa diente. Die sich daran entzündende Kritik, vor allem das Unverständnis anderer europäischer Nationen, die ganz selbstverständlich ihre überkommenen nationalen Opfer- und/oder Heldenerzählung rekapitulierten, verweisen zugleich auf die Grenzen solch transnationaler Erzählungen.
Hinsichtlich der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität zeigt sich der Wunsch, dem politischen Projekt eine „Seele“ einzuhauchen, wie es der frühere EU-Kommissionspräsident Jaques DelorsDelors, Jacques bildlich ausgedrückt hat (siehe Assmann 2012; Boer u.a. 2011; Leggewie 2011). Gegenüber dem Image der EU als vor allem wirtschaftliche Ziele verfolgende Vertragsgemeinschaft mit einer gern und oft übertrieben gescholtenen Bürokratie wird der ideelle Kern EuropasEuropa, also die gemeinsamen kulturellen Wurzeln und Werte, betont, um die Bindungskräfte zwischen den Nationen weiter zu stärken. Das birgt geschichtspolitische Herausforderungen (siehe Schmid 2008a, 174–199, zu weiterer Literatur dort Anm. 1; außerdem Arendes/Duyster Borredà 2015):
Die Probleme beginnen definitorisch damit, welches EuropaEuropa eigentlich gemeint ist: ein geographischer Raum (mit oder ohne Russland bzw. der Türkei), ein Kulturraum (dessen prägende geistigen Kräfte, von der Antike und den großen Religionen über den Humanismus und die Aufklärung bis zum liberalen Verfassungsdenken, immer auch eigene Teil-Erinnerungsgemeinschaften herausgebildet haben) oder etwa der Raum eines gemeinsamen politischen Projekts (wozu neben der Europäischen Union genauso der Europarat, die OSZE und andere zählen könnten)? Europa bildet offenkundig auch noch jenseits der Vielfalt an Nationen mit ihrer jeweils eigenen Geschichte einen überaus heterogenen Erinnerungsraum; es haben sich transnationale Teilgemeinschaften herausgebildet, die zwar über die Nation hinausweisen, aber nicht in Europa aufgehen müssen: etwa die Unterscheidung in Ost und West (politisch aufgeladen in ein ‚neues‘ und ein ‚altes‘ Europa) oder in einen ‚reichen‘ Norden und ‚armen‘ Süden. Dazu treten regionale Erinnerungskreise wie die baltischen Staaten, die Benelux-Staaten, der deutschsprachige Raum, die Staaten des ehemaligen Jugoslawien oder der Mittelmeerraum (der wiederum über Europa weit hinausweist). Und auch das bi-nationale Erinnern, etwa zwischen Deutschland und Frankreich oder neuerdings verstärkt zwischen Deutschland und Polen, gehört in diesen Zusammenhang.
Als Hemmnis für die Stärkung der europäischen Bindungskräfte erscheint ein Empathie-Defizit: Das Potential zur Homogenisierung von Geschichtsbildern liegt zwar im Gründungsimpuls der EU, also dem Wunsch, nach der Katastrophe zweier Weltkriege eine dauerhafte Friedensordnung auf einem Kontinent zu schaffen, der im gnadenlos geführten Wettstreit der Nationen zuvor den Weg der Selbstzerstörung gegangen war. Diese Gewalterfahrung ist zwar transnational, liefert aber nur Stoff für eine negative Gründungserzählung, die noch dazu auf die divergierenden und konkurrierenden Lesarten der Nationen zurückverweist. Seitdem die Bürger der EU fast sieben Jahrzehnte in Frieden leben, haben Kriegserfahrung und Friedenssehnsucht zudem längst von ihrer früheren emotional verbindenden Zugkraft verloren. Gegenüber den miteinander geteilten negativen Erfahrungen fällt es sehr viel schwerer, die gemeinsam erreichten Errungenschaften im kollektiven GedächtnisGedächtniskollektives zu verankern: Denn die europäische IntegrationsgeschichteEuropa besitzt in ihrer Abfolge von Vertragsabschlüssen wenig Potential zur emotionalen Bindung. Die EU erscheint – gerade gegenüber der Nation – als eher mythenarm und wenig symbolträchtig. Die beiden als Europatag begangenen Daten – 5. Mai (Gründung des Europarates 1949) bzw. 9. MaiGedenktage9. Mai (Rede des französischen Außenministers Robert SchumanSchuman, Robert 1950 zur Gründung einer Gemeinschaft von Kohle und Stahl) – stehen bis heute völlig im Schatten des 8. MaiGedenktage8. Mai, dem Tag des Kriegsendes 1945 (→ Kapitel 6.4).
Erschwerend für die Stiftung kollektiver Identität in der Europäischen Union ist deren Selbstverständnis. Ihr Motto lautet „Einheit in Vielfalt“. Es braucht nicht weiter erläutert zu werden, dass sich dieser Markenkern der EU, der auf die Pluralität gleichberechtigter Geschichtsbilder verweist, realpolitisch zwar einleuchtet, sich aber für gemeinsame Geschichtserzählungen als problematisch erweisen muss. Angesichts der skizzierten Diversität kann die spezifisch europäische Erinnerung sicher nie Ersatz, sondern immer nur „spannungsreiche Erweiterung“ (Reichel/Schmid/Steinbach 2009, 408) nationaler Erinnerungen sein. Unter europäischer Gedächtniskultur versteht der Osteuropa-Historiker Karl SchlögelSchlögel, Karl (2008, 166) deshalb auch nicht ein „homogenes Narrativ aus einem Guss, […] sondern die Entstehung eines geschützten Raumes für den Strom der Erzählungen, die jetzt am Ende des Kalten Krieges und am Ende der Verfeindung möglich geworden sind.“
Es stellen sich nicht zuletzt strukturelle Probleme: Inzwischen gab es zwar eine Reihe gedenkpolitisch bedeutsamer Resolutionen des EU-Parlaments (siehe Hammerstein/Hofmann 2009). Ein gemeinsames europäisches Erinnern lässt sich aber nicht per EU-Richtlinie verordnen; eine lebendige ErinnerungskulturErinnerungskultur wächst von unten. Dazu bedarf es eines gemeinsamen Kommunikationsraums, eine grenzüberschreitende