Geschichte im politischen Raum. Hilmar Sack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hilmar Sack
Издательство: Bookwire
Серия: Public History - Geschichte in der Praxis
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846346198
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(etwa mit dem Nachrichtensender „Euronews“, Zeitungsangeboten wie „Le monde diplomatique“ und der gemeinsamen EuropaEuropa-Beilage mehrerer großer nationaler Tageszeitungen [darunter die „Süddeutsche Zeitung“], vor allem aber im Netz mit dem Onlineportal Historiana oder dem Geschichtsnetzwerk EUSTORY). Die institutionellen Rahmenbedingungen, öffentliche wie zivilgesellschaftliche, sind auf europäischer Ebene bei weitem nicht so ausgebaut wie auf nationalstaatlicher Ebene. Immerhin: Ansätze gibt es, insbesondere auf Ebene der MuseenMuseen mit einer Reihe von EU-, nationalstaatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen, darunter das im Entstehen begriffene „Haus der Europäischen Geschichte“, das auf eine Initiative des Europäischen ParlamentsEuropäisches Parlament zurückgeht (siehe Troebst 2012). Die Grenzen einer europäischen Erinnerungspolitik verdeutlicht beispielhaft das immer wieder neu angeregte Projekt eines transnationalen Geschichtsschulbuchs, ohne dass es bislang gelungen wäre, ein bereits 1992 inoffiziell erarbeitetes europäisches Schullehrbuch in allen Mitgliedsstaaten durchzusetzen (in Deutschland konnten jedoch bi-nationale Schulbücher mit Frankreich und mit Polen realisiert werden).

       Das Bemühen um die Intensivierung transnationalen Erinnerns in EuropaEuropa wird am deutlichsten in der Etablierung europäischer GedenktageGedenktage wie dem 27. JanuarGedenktage27. Januar zum Gedenken an den HolocaustHolocaust/Shoah (→ Kapitel 6.4). Der „Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und NationalsozialismusNationalsozialismus“, der seit 2009 am 23. AugustGedenktage23. August, dem Tag der Unterzeichnung des HitlerHitler, Adolf-StalinStalin, Josef-Pakts 1939, begangen wird, verdeutlicht, wie nach 1989 neue Erzählungen in die geschichtspolitische Arena getreten sind, die mit überkommenen westlichen Geschichtsauffassungen um die Deutungshoheit konkurrieren. Während das Kriegsende 1945Zweiter Weltkrieg in den westeuropäischen Staaten als Befreiung gilt, begann für die osteuropäischen Nationen ein Leben unter neuer Diktatur. In diesen Ländern hat das Jahr 1989 als Fluchtpunkt ihrer Geschichtserzählungen eine weit größere Bedeutung als 1945. Mit dem Gedenktag am 23. August (→ Kapitel 6.4), der an die doppelte Diktaturerfahrung unter Nationalsozialisten und Kommunisten erinnert, gewinnt auf europäischer Ebene der vergleichende Totalitarismus-Ansatz an Auftrieb, der das Diktum von der Singularität und Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen und des Holocaust in Frage stellt. Missverständnisse, Unverständnis und heftige geschichtspolitische Debatten sind da vorprogrammiert. Mit der Osterweiterung ist die ErinnerungskulturErinnerungskultur in der EU also vielfältiger geworden, die Einflussmöglichkeiten einer offiziellen Gedenkpolitik gleichzeitig begrenzter. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der 23. August in den meisten EU-Staaten gar nicht als Gedenktag begangen wird.

      Verlassen wir die europäische Ebene. Angesichts neuer transnationaler Erfahrungsräume im Zuge der GlobalisierungGlobalisierung und der Fähigkeit zur unbegrenzten Kommunikation im World Wide Web stellt sich die Frage: Wird das GedächtnisGedächtnis künftig ‚ortlos‘? Solch ein Internationalisierungsprozess, in dem Geschichtsbilder universelle Bedeutung erhalten und es gleichzeitig zur Umdeutung überkommener partikularer Geschichtsauffassungen kommen kann, zeichnet sich bislang am stärksten im Umgang mit dem HolocaustHolocaust/Shoah ab (SchmidSchmid, Harald 2008a, 197f.; Levy/Sznaider 2001). Kennzeichnend für den universalen Geschichtsbezug ist das Moralisieren anstelle der Historisierung. Das internationale Auschwitz-Gedenken löst sich von der Perspektive auf die deutsche Schuld. Der Holocaust wird – aus seinem geschichtlichen Kontext gerissen – zur Chiffre für das Verbrechen gegen die Menschlichkeit schlechthin und damit gleichzeitig für die Forderung nach universalen Menschenrechten. Damit ist er heute global anschlussfähig, übertragbar auf andere Ereignisse, auf andere Opfergruppen. Auschwitz liegt dann, diametral zu seinem Verständnis als – auch metaphysisch – singulärer Ort, „potentiell überall“ (Augstein 2002, 225), der Holocaust wird „zu einem ‚Container‘ für Erinnerungen an unterschiedliche Opfer“ (Levy/Sznaider 2001, 223). Umstritten ist, inwieweit die Instrumentalisierung des Holocaust wirklich der Universalisierung von Menschenrechten dient oder nur der Legitimation politischen Handelns, bei der die Trivialisierung des Verbrechens und das Verwischen von Grenzen zwischen Tätern und Opfern billigend in Kauf genommen wird. Kontrovers diskutiert werden in diesem Zusammenhang die provokanten Thesen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Norman FinkelsteinFinkelstein, Norman über die Instrumentalisierung der Massenvernichtung der europäischen Juden in der US-amerikanischen Nahost-Debatte zugunsten der Position Israels (Finkelstein 2001; siehe Piper 2001, Steinberger 2001).

      Weiterführende Literatur

      Boer u.a. 2011: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis u.a. (Hg.), Europäische ErinnerungsorteErinnerungsorte, 3 Bde. (München 2011ff.).

      Eckel/Moisel 2008: Jan Eckel/Claudia Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust? ErinnerungskulturErinnerungskultur und GeschichtspolitikGeschichtspolitik in internationaler Perspektive (Göttingen 2008).

      Feindt u.a. 2014: Gregor Feindt/Félix Krawatzek/Daniela Mehler/Friedemann Pestel/Rieke Trimçev (Hg.), Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation (Göttingen 2014).

      Kroh 2008: JensJens, Walter Kroh, Erinnern global. In: Bundeszentrale für politische BildungBundeszentrale für politische Bildung, Dossier Geschichte und Erinnerung, 21. November 2008 URL: <http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39863/erinnern-global> [Zugriff: 03.04.2016]

      Sznaider 2016: Natan Sznaider, GedächtnisGedächtnis im Zeitalter der GlobalisierungGlobalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 3–4, 2016, 10–15.

      3.3 Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft

      Auch die globalen Wanderungsströme der zurückliegenden Jahrzehnte verändern die ErinnerungskulturErinnerungskultur. Welche Auswirkungen hat die Zuwanderung ethnischer und religiöser Minderheiten auf bestehende Erinnerungsgemeinschaften im Einwanderungsland? Vor welchen Herausforderungen stehen Mehrheitsgesellschaft und Migranten bzw. Einwanderer-Communities, jeweils für sich und im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander? Das sind hochpolitische Fragen, die sich bereits heute stellen und im ‚Zeitalter der Migration‘ absehbar weiter an Bedeutung gewinnen werden.

      Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es hat lange gedauert, bis sich Gesellschaft und Politik zu diesem empirisch unbestreitbaren Befund bekannten. Insgesamt leben bereits heute rund 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik, das sind über 20 Prozent der Bevölkerung. Frühere ‚Gastarbeiter‘-Familien (→ Glossar) befinden sich inzwischen in zweiter und dritter Generation in Deutschland, ihre Kinder und Enkel sind hier geboren, oft im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit – und nicht selten geprägt von einem doppelten, z.T. sogar multiplen Heimat- bzw. Zugehörigkeitsgefühl.

      Zuwanderung (und im Übrigen auch Auswanderung) hat es immer schon gegeben. So berichtet jedes örtliche Telefonbuch des Ruhrgebiets mit der Massierung polnischer Nachnamen vom ‚Pott‘ als Einwanderungsregion im Zeitalter der Industrialisierung. Und auch die Anfangsjahre der Bundesrepublik waren von einer immensen Integrationsaufgabe geprägt: Die Millionen Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten mussten nicht nur in Lohn und Brot gebracht werden, auch ihre Erinnerungen an FluchtFlucht und Vertreibung und Vertreibung, an die alte Heimat und die abgebrochenen deutschen Kulturtraditionen im Osten verlangten nach politischer und gesellschaftlicher Achtung (→ Kapitel 4.1).

      Während der Staat sich bemüht, das ostdeutsche Kulturgut in den erinnerungskulturellen Haushalt der Bundesrepublik aufzunehmen, gibt es derzeit wenige Versuche, auch die Erfahrungen der Zuwanderer aus anderen Staaten und Kulturen in die kollektive Erinnerung einzubeziehen. Als „augenfällig blass und unterbelichtet“ beurteilten die Historiker Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer die historische Dimension im Migrationsdiskurs. Sie kritisieren, Einheimische und Zuwanderer bzw. deren Kinder lebten noch immer in „getrennten Erinnerungslandschaften“ (Motte/Ohliger 2004, 47). Unter Migranten wie unter Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft herrschen wechselseitig gravierende Defizite im Wissen um die Geschichtsbilder ihres Gegenübers. Allenfalls das Foto des Portugiesen Armando