Wohin sich die Hellenisten auf ihrer Flucht noch wandten, beschreibt Apg 11,19f: „Bei der Verfolgung, die wegen Stephanus entstanden war, kamen die Verfolgten bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia; dort verkündigten sie das Wort nur den Juden. Einige aber von ihnen, die aus Zypern und Kyrene stammten, verkündigten, als sie nach Antiochia kamen, auch den Griechen das Evangelium von Jesus, dem Herrn.“ Das syrische Antiochia am Orontes war die drittgrößte Stadt des Imperium Romanum und bot für die frühe urchristliche Mission beste Voraussetzungen, denn hier sympathisierten zahlreiche Griechen mit der jüdischen Religion7. Aus Antiochia stammte auch der zum Stephanuskreis gehörende Proselyt Nikolas (Apg 6,5), und in Antiochia ging man offentsichtlich dazu über, auch unter der griechischen Bevölkerung planmäßig und mit großem Erfolg das Evangelium zu verkünden8. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte gehörten Barnabas und Paulus nicht von Anfang an der antiochenischen Gemeinde an, sondern sie traten erst nach dem Beginn der beschneidungsfreien Mission dort in die Arbeit ein (vgl. Apg 11,22.25). Offenbar kam Paulus erst in Antiochia mit den Jerusalemer Hellenisten in Kontakt9. Die Mission der antiochenischen Gemeinde unter Juden und vor allem Menschen aus griechisch-römischer Tradition muss sehr erfolgreich gewesen sein, denn nach Apg 11,26 kam in Antiochia als Fremdbezeichnung der Begriff Χριστιανοί („Christianer“) für die Anhänger der neuen Lehre auf. Die Christen wurden somit Anfang der 40er Jahre erstmals als eigene Gruppe neben Juden und Heiden wahrgenommen. Sie galten nun zunehmend aus heidnischer Perspektive als eine nichtjüdische Bewegung und müssen ein erkennbares theologisches Profil und eine organisatorische Eigenstruktur gewonnen haben10.
Die Bedeutung von Antiochia
Die herausgehobene Stellung von Antiochia in der urchristlichen Theologiegeschichte war immer der Anlass für weitreichende historische und theologische Schlussfolgerungen. Für die Religionsgeschichtliche Schule bildete Antiochia nicht nur das fehlende Glied zwischen der Urgemeinde und Paulus, diese Stadt war zugleich der Geburtsort des Christentums als einer synkretistischen Religion. Hier vollzog sich die für die Geschichte des frühen Christentums so einschneidende Entwicklung, „durch die aus dem zukünftigen Messias Jesus der als Kyrios seiner Gemeinde gegenwärtige Kultheros wurde.“11 Auch in der aktuellen Forschung gilt Antiochia teilweise als Mutterboden frühchristlicher, speziell paulinischer Theologie. Danach wurde Paulus hier nicht nur grundlegend in den christlichen Glauben eingeführt, sondern alle zentralen Anschauungen seiner Theologie entstanden bereits in Antiochia. „Was Paulus später an alter Tradition benutzt, entstammt im wesentlichen dem antiochenischen Gemeindewissen.“12 An den Texten verifizieren lassen sich diese weitreichenden historischen und theologischen Schlussfolgerungen nicht13: 1) Nach Apg 11,26 arbeiteten Barnabas und Paulus lediglich ein Jahr in Antiochia selbst zusammen14, und sie werden von Lukas als Lehrer der antiochenischen Gemeinde dargestellt. Lukas minimiert den direkten Aufenthalt des Paulus in Antiochia, der in seiner Länge im Vergleich mit den Gründungsaufenthalten des Apostels in Korinth (Apg 18,4: 1 1/2 Jahre) und Ephesus (Apg 19,10: über 2 Jahre) als normal angesehen werden muss. Zwar kehrte Paulus am Ende der ersten Missionsreise nach Antiochia zurück (vgl. Apg 14,28), doch dies ist im Vergleich mit den Reisestationen der späteren Missionsreisen ein üblicher Vorgang. 2) Paulus erwähnt Antiochia nur in Gal 2,11, während die Zeit zwischen dem 1. und 2. Jerusalembesuch und damit auch die Epoche der Anbindung an Antiochia von ihm faktisch verschwiegen wird.
Die besondere Stellung der antiochenischen Gemeinde in der urchristlichen Theologiegeschichte und auch ihr Einfluss auf Paulus stehen dennoch außer Zweifel; Antiochia war ein Zentrum frühchristlicher Mission und eine bedeutsame Station für Paulus. Hier erfolgte der Übergang zu einer programmatischen beschneidungsfreien Mission unter Menschen griechisch-römischer Religiosität. Zugleich ist aber davor zu warnen, alle wesentlichen frühchristlichen Traditionen in Antiochia zu verorten und die dortige Gemeinde „zum ‚Sammelbecken‘ für das Nichtwissen urchristlicher Zusammenhänge werden zu lassen.“15
Nach seiner Berufung zum Apostel beriet sich Paulus gemäß seiner Eigenaussage weder mit anderen Menschen, noch zog er hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor ihm Apostel waren, „sondern ich begab mich hinweg in die Arabia und kehrte wieder nach Damaskus zurück“ (Gal 1,17b)16. Über den Aufenthalt des Apostels in der Arabia liegen keine Informationen vor, aber es dürfte damit die steinige Wüstengegend südöstlich von Damaskus gemeint sein, die den nördlichen Teil des Nabatäerreiches bildete. Zum wirtschaftlichen Einflussbereich des Nabatäerreiches gehörte damals auch Damaskus (2Kor 11,32), wohin Paulus zurückkehrte und erstmals längere Zeit in einer christlichen Gemeinde mitarbeitete. Erst im dritten Jahr nach seiner Berufung zum Apostel (= 35 n.Chr.) besuchte Paulus die Jerusalemer Urgemeinde (Gal 1,18–20). Im Anschluss an den kurzen Jerusalemaufenthalt begab sich Paulus um 36/37 n.Chr. in die Gebiete von Syrien und Kilikien (Gal 1,21). Mit Syrien wird das Gebiet um Antiochia am Orontes und mit Kilikien das Gebiet um Tarsus gemeint sein. Paulus wirkte wahrscheinlich zunächst in Tarsus und im kilikischen Raum, aber der Charakter dieser Mission lässt sich weder aus den Paulusbriefen noch aus der Apostelgeschichte erhellen. Übermäßig erfolgreich dürfte diese ca. sechsjährige Tätigkeit17 nicht gewesen sein, denn Paulus schloss sich um 42 n.Chr. als ‚Juniorpartner‘ des Barnabas der antiochenischen Mission an. Die Personallegende Apg 4,36f und die Aufzählung Apg 13,1 lassen die (auch gegenüber Paulus) hervorgehobene Stellung des Barnabas erkennen; nach Gal 2,1.9 erscheint er als gleichberechtigter Gesprächspartner beim Apostelkonzil. Paulus akzeptierte Barnabas uneingeschränkt (vgl. 1Kor 9,6), widerstand ihm aber beim antiochenischen Zwischenfall (vgl. Gal 2,11–14). Die theologischen Anschauungen des Barnabas lassen sich nur indirekt erschließen, sicherlich war er aber neben Paulus ein exponierter Vertreter der beschneidungsfreien Mission von Nichtjuden18.
Nach Beendigung ihrer Mission in Syrien und Teilen Kleinasiens kehrten Barnabas und Paulus nach Antiochia zurück, um dann nach Jerusalem zum Apostelkonzil gesandt zu werden (vgl. Apg 15,1f). Eine etwas andere Darstellung über den konkreten Anlass der Jerusalemreise gibt Paulus in Gal 2,2a: „Ich zog aber hinauf auf Grund einer Offenbarung …“ Er ordnet seine Präsenz beim Apostelkonzil also nicht mehr im Rahmen der antiochenischen Missionstätigkeit ein. Man kann vermuten, dass die Anbindung des Barnabas und Paulus an die antiochenische Gemeinde im Vorfeld des Apostelkonzils der lukanischen Geschichtsschau entspringt. Andererseits formuliert aber auch Paulus tendenziös, denn er will seine Unabhängigkeit von Jerusalem und anderen Gemeinden betonen. Zudem gibt er den konkreten Anlass für seine Teilnahme am Apostelkonzil selbst zu erkennen: μή πως εἰς ϰενὸν τρέχω ἢ ἔδραμον (Gal 2,2c: „damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre“). Toraobservante Judenchristen waren in die Heimatgemeinden des Apostels eingedrungen, sie beobachteten die dort gelebte Freiheit (von der Tora) und sind nun auf dem Apostelkonzil präsent, um die Beschneidung von Christen griechisch-römischer Religiosität zu fordern (Gal 2,4f). Paulus befürchtete offensichtlich, dass seine bisherige beschneidungsfreie (und damit aus jüdischer und streng judenchristlicher Sicht faktisch torafreie) Mission19 durch die Agitation dieser Gegner und ein von ihnen beeinflusstes Votum der Jerusalemer zunichte gemacht werden könnte. Dann wäre er seinem apostolischen Auftrag nicht nachgekommen, Gemeinden zu gründen (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,15–18.23; 2Kor