Der Mythos besitzt eine eigene Rationalität, die kategorial, nicht aber qualitativ von der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Rationalität unterschieden ist. Auch das naturwissenschaftliche Weltbild beruht auf axiomatischen Basissätzen, die die allgemeine Art und Weise definieren, mit der die Wirklichkeit betrachtet wird. Sie stellen den Rahmen dar, in dem sich alles wissenschaftliche Behaupten und Konstruieren vollzieht; sie sind das Bezugssystem, in dem alles gedeutet und verarbeit wird; sie bestimmen die Fragen, die man an das Wirkliche stellt und somit auch die Antworten, die gegeben werden. „Die von der Wissenschaft erfasste Wirklichkeit ist demnach nicht die Wirklichkeit an sich, sondern sie ist stets eine auf bestimmte Weise gedeutete. Die Antworten, die sie uns gibt, hängen von unseren Fragen ab.“67 Auch der Mythos leistet Welterklärung, nur auf andere Art und Weise als das neuzeitliche naturwissenschaftliche Denken. Der Mythos ist ein Erfahrungssystem, ein Mittel von Erklärung und Ordnung. „Er erklärt allerdings nicht mit Hilfe von Naturgesetzen und geschichtlichen Regeln, sondern durch Archai, mögen sich diese nun auf den Bereich der Natur oder des Menschen beziehen.“68 Deshalb ist der Mythos nichts Defizitäres oder Unvernünftiges, das ‚entmythologisiert‘ und damit überwunden werden muss69. Vielmehr ist er ein unaufgebbares Element jeder Weltdeutung und damit auch des Glaubens, durch den menschliche Geschichte transparent wird für göttliches Handeln. Der Mythos erlaubt es, verschiedene Wirklichkeiten in Beziehung zueinander zu setzen und so verstehbar zu machen. Dabei ist der um sich selbst wissende Mythos alles andere als eine Verobjektivierung Gottes, denn er ist sich seiner eigentlichen Unsagbarkeit bewusst und verzichtet darauf, Gott für menschliche Zwecke und Menschen für angeblich göttliche Zwecke zu instrumentalisieren.
Mythen beschreiben das Handeln von Göttern in Erzählungen, im frühen Christentum ist dies das Handeln Gottes im und durch das Leben des Jesus von Nazareth. Im Zentrum des mythischen Redens im Neuen Testament steht die Vergottung des Jesus von Nazareth, die sehr früh in allen Bereichen des entstehenden Christentums einsetzte. Diese Mythisierung erfolgte nicht durch die Übernahme vorgegebener Konzepte, sondern auf der Basis jüdischer (Monotheismus) und griechisch-römischer Vorstellungen (Menschwerdung eines Gottes/Vergöttlichung eines Menschen) wurden Jesu vorösterlicher Anspruch und sein österliches Geschick so aufgenommen, dass ein eigenständiger und neuer Mythos entstand. Dabei wird die Geschichte durch den Mythos nicht aufgehoben, sondern in eine übergreifende Wirklichkeit integriert. Bereits 1Kor 15,3–5 verdeutlicht diesen für das frühe Christentum grundlegenden Sachverhalt (s.u. Formeltraditionen), denn die von Paulus angeführten geschichtlichen Eckdaten („Christus starb … er wurde begraben … ist auferweckt worden … und erschien dem Kephas“) erhalten ihre sinnstiftende Funktion erst durch die Aussagen „für unsere Sünden“ und „gemäß der Schrift“70. In besonderer Weise werden die göttliche und menschliche Wirklichkeit in der neuen Literaturgattung Evangelium in Beziehung gesetzt. Sie ist literaturgeschichtlich an der antiken Biographie orientiert, zugleich aber mit das Geschichtliche transzendierenden Elementen durchzogen: Vom ‚Anfang‘ (vgl. Gen 1,1; Mk 1,1; Joh 1,1) konnte nur mythisch erzählt werden und vor allem die christologischen Hoheitstitel bringen die Zugehörigkeit des in der Geschichte handelnden Jesus Christus zur himmlischen Welt zum Ausdruck. Die Evangelien werden so zu Grundbüchern einer neuen Religion, in deren Zentrum der Christusmythos stand: Die Geschichte des Gottessohnes Jesus von Nazareth, der für die Menschen eintrat und für ‚unsere Sünden‘ starb, damit wir leben können (vgl. 2Kor 8,9).
Frühe Christologie
Als maßgeblicher früher Zeuge bestätigt Paulus, dass die frühe Christologie schon bald eine feste Sprache und Gestalt in Titeln, Formeln und Traditionen gewann. Diese Formen frühchristlicher Überlieferung sind Wissensspeicher und verdichten das Christusgeschehen. Nach 1Kor 15,1–3a71 teilt Paulus der Gemeinde mit, was er selbst zuvor empfing (vgl. 1Kor 15,3b–5). In 1Kor 11,2 lobt Paulus die Gemeinde, „weil ihr in allen (Dingen) meiner gedenkt und an den Überlieferungen festhaltet, wie ich sie euch übergeben habe.“ Die Abendmahlsparadosis empfing Paulus nach 1Kor 11,23a vom Herrn, und er gibt sie nun an die Gemeinde weiter (1Kor 11,23b–26). Wann und wo Paulus über sein Vor- und Spezialwissen hinaus im christlichen Glauben unterwiesen wurde, lässt sich nicht mehr sagen. Er empfing nach Apg 9,17.18 in Damaskus den Geist und ließ sich taufen, vielleicht war damit auch eine Unterweisung im christlichen Glauben verbunden. Ohne Zweifel erhielt Paulus schon sehr früh eine solche Katechese, denn er beginnt schon bald nach seiner Berufung zum Apostel mit eigenständiger Missionsarbeit (vgl. Gal 1,17).
Form- und traditionsgeschichtlich lassen sich die frühen christologischen Anschauungen in verschiedene Kategorien einteilen, auch wenn geprägte Formeln sowie Wort- und Motivkombinationen über eine gewisse Variabilität verfügen, sich nicht immer exakt verorten lassen und die formgeschichtliche Klassifizierung teilweise unterschiedlich ausfällt72.
Christologische Titel
Bereits die christologischen Titel sind Abbreviaturen des gesamten Heilsgeschehens, das sie jeweils unter spezieller Perspektive aktualisieren; sie sagen aus, wer und was Jesus von Nazareth für die glaubende Gemeinde ist73. Die zentrale Hoheitsbezeichnung Χριστός bzw. Ἰησοῦς Χριστός (s.o. 3.9.3) haftet bereits an den ältesten Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) und thematisiert das gesamte Heilsgeschehen. Schon bei Paulus verbinden sich Aussagen über die Kreuzigung (1Kor 1,21; 2,2; Gal 3,1.13), den Tod (Röm 5,6.8; 14,15; 15,3; 1Kor 8,11; Gal 2,19.21), die Auferweckung (Röm 6,9; 8,11; 10,7; 1Kor 15,12–17.20.23), die Präexistenz (1Kor 10,4; 11,3a.b) und die irdische Existenz Jesu (Röm 9,5; 2Kor 5,16) mit Χριστός. Von der auf das gesamte Heilsgeschehen bezogenen Grundaussage verzweigen sich die Χριστός-Aussagen dann in vielfältige Bereiche. So spricht Paulus vom πιστεύειν εἰς Χριστόν (Gal 2,16: „glauben an Christus“; vgl. Gal 3,22; Phil 1,29), vom εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ („Evangelium Christi“, vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Röm 15,19; Phil 1,27) und versteht sich selbst als Apostel Christi (vgl. 1Thess 2,7; 2Kor 11,13: ἀπόστολος Χριστοῦ). Auch in den Evangelien nimmt der Titelname Ἰησοῦς Χριστός eine zentrale Stellung ein, wie z.B.Mk 1,1; 8,29; 14,61; Mt 16,16 und die lukanische Geistchristologie (s.u. 8.4.3) deutlich zeigen. Der selbstverständliche Gebrauch von Χριστός auch bei überwiegend heidenchristlichen Gemeinden ist kein Zufall, denn die Adressaten konnten von ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund Χριστός im Kontext antiker Salbungsriten rezipieren. Die im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten Salbungsriten zeugen von einem gemeinantiken Sprachgebrauch, wonach gilt: „wer/was gesalbt ist, ist heilig, Gott nah, Gott übergeben“74. Sowohl Judenchristen als auch Christen aus griechisch-römischer Tradition75 konnten Χριστός als Prädikat für die einzigartige Gottnähe und Heiligkeit Jesu verstehen, so dass Χριστός (bzw. Ἰησοῦς Χριστός) gerade bei Paulus als Titelname zum idealen Missionsbegriff wurde.
Eine veränderte Perspektive verbindet sich mit dem ϰύριος-Titel76 (vgl. Ps 110,1LXX), der 719mal im Neuen Testament belegt ist. Indem die Glaubenden Jesus als ‚Herrn‘ bezeichnen, unterstellen sie sich der Autorität des in der Gemeinde gegenwärtig Erhöhten. Κύριος bringt Jesu einzigartige Würde und Funktion zum Ausdruck: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus. Der mit dem Kyrios-Titel verbundene Aspekt der Gegenwart des Erhöhten in der Gemeinde zeigt sich deutlich in der Akklamation und in der Abendmahlstradition als Haftpunkten der Überlieferung. Indem die Gemeinde akklamiert, erkennt sie Jesus als Kyrios an und bekennt sich zu ihm (vgl. 1Kor 12,3; Phil 2,6–11). Der Gott der Christen wirkt durch seinen Geist, so dass sie laut im Gottesdienst rufen (1Kor 12,3): ϰύριος Ἰησοῦς („Herr ist Jesus“), und nicht: ἀνάϑεμα Ἰησοῦς („Verflucht sei Jesus“). Gehäuft erscheint ϰύριος in der Abendmahlsüberlieferung (vgl. 1Kor 11,20–23.26ff.32; 16,22). Die Gemeinde versammelt sich in der machtvollen Gegenwart des Erhöhten, dessen heilvolle, aber auch strafende Kräfte