Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
Скачать книгу
Verdienste wegen das Sterbliche und dem Leiden Unterworfene ablegten, sondern Apollo ist einer der ewigen, nicht geborenen Götter.“51 Herakles vernichtete als Sohn Gottes und Retter in Gehorsam gegenüber Zeus Unrecht und Gesetzlosigkeit auf der Erde; wegen seiner Tugend (ἀρετή) verlieh ihm Zeus die Unsterblichkeit52. Mythische Gestalten des Anfangs wie Pythagoras oder berühmte Wundertäter wie Apollonius von Tyana53 erschienen als Götter in Menschengestalt, die ihre Macht zum Wohl der Menschen einsetzten. Empedokles reiste als unsterblicher Gott umher, beglückte und heilte die Menschen54. Der Heroenkult setzte sich im Herrscherkult fort, der schließlich in den römischen Kaiserkult überging55; in den großen Kulturleistungen und Siegen der Geschichte offenbaren sich Gottheiten in Menschengestalt56.

      Aufschlussreich sind Überlegungen Plutarchs zum Wesen der zahlreichen wirklichen oder angeblichen Götter: „Aus diesem Grunde tut man wohl am besten, wenn man alles, was von Typhon, Osiris und Isis erzählt wird, nicht für Begebenheiten einiger Götter oder Menschen, sondern gewisser großer Geister (δαιμόνων μεγάλων) hält, welche, wie auch Plato, Pythagoras, Xenokrates und Chrysipp mit den alten Theologen übereinstimmend behaupten, zwar stärker sind als Menschen und von Natur aus eine größere Macht besitzen als wir, aber auf der anderen Seite auch nicht eine ganz reine und unvermischte Gottheit, sondern so wie wir eine Seele und einen Körper haben, die Vergnügen und Schmerz empfinden können … Und Plato nennt diese Art von Dämonen Dolmetscher und Mittelpersonen zwischen den Göttern und Menschen (ὅ τε Πλάτων ἑρμηνευτιϰὸν τὸ τοιοῦτον ὀνομάζει γένος ϰαὶ διαϰονιϰὸν ἐν μέσῳ ϑεῶν ϰαὶ ἀνϑρώπων), die die Wünsche und Gebete der Sterblichen vor die Gottheit tragen und von da Prophezeiungen und gute Gaben zurückbringen“ (Is et Os 361). Im Kontext eines sich ausbreitenden (paganen) Monotheismus bestimmt Plutarch Mittlerwesen, die den Kontakt zu den wahren Gottheiten halten und eine für die Menschen unabdingbare Funktion wahrnehmen57.

      Die Vorstellung eines sowohl göttlichen als auch menschlichen Mittlerwesens58 war gerade für Griechen und Römer auf ihrem eigenen kulturellen Hintergrund rezipierbar59. Für Juden hingegen war der Gedanke unerträglich, dass Menschen wie der römische Kaiser Caligula sich anmaßten, als Götter zu gelten und verehrt zu werden60. Hier setzt die frühe Christologie sowohl gegenüber dem jüdischen als auch gegenüber dem griechisch-römischen Denken eigene Akzente, denn die Gottessohnschaft eines Gekreuzigten blieb in beiden Bereichen ein fremdartiger und anstößiger Gedanke (vgl. 1Kor 1,23).

      Auch der römische Kaiserkult61 dürfte die Ausbildung der frühen Christologie (indirekt) mit beeinflusst haben. Nicht im Sinne einer eigenständigen religionsgeschichtlichen Kategorie, wohl aber als (zumindest in Kleinasien) allgegenwärtige kulturell-religiöse Praxis. Der römische Kaiser galt als göttlich und als Weltherrscher (s. u. 9.1), er war der Bringer und der Garant des Friedens und der Gerechtigkeit (vgl. 1Thess 5,3), er erfuhr sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich eine vielfältige Verehrung62 und mit ihm verbanden sich eschatologische Hoffnungen63. Nicht wenige Begriffe (z.B. Evangelium; Kyrios; Sohn Gottes) und Texte (z.B. Phil 2,6–11; Mk 15,39; Mt 2,13–18; Lk 1–2; 24,50–52/Apg 1,1–3) lassen Nähe und/oder Kritik zum Kaiserkult und seiner Motivwelt erkennen.

      Religionsgeschichtlich trifft somit auch für die Christologie zu, was bei fast allen zentralen Begriffen und Vorstellungen der ntl. Schriften gilt: Es gibt starke Hinweise auf eine (zumindest) doppelte Vorgeschichte, sowohl im jüdischen als auch im griechisch-römischen Bereich. Eine doppelte Traditionstiefe war gerade die Voraussetzung für eine erfolgreiche Rezeption des christlichen Glaubens in gemischten Gemeinden! Trotz oder gerade wegen dieser doppelten Verankerung zeigen fast alle ntl. Vorstellungen gegenüber den von ihnen aufgenommenen Traditionen ein erkennbares Eigenprofil. Die kritische Brechung durch die Christologie und Soteriologie verhinderte eine direkte Aufnahme geläufiger religiöser Muster und ermöglichte neue und zumeist kreative eigenständige Interpretationsprozesse. Fast alle ntl. Autoren/Schriften schmiedeten im Feuer der Christologie/Soteriologie eine neue Begriffs- und Vorstellungswelt.

      Die Herausbildung der frühen Christologie vollzog sich nicht in räumlich oder zeitlich abgrenzbaren Stufen, sondern innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums traten die verschiedenen christologischen Anschauungen nebeneinander und zum Teil miteinander verbunden auf. Es setzte ein theologischer Durchdringungs- und Versprachlichungsprozess ein, der die Identität Jesu als Irdischer und Auferweckter in seinem Verhältnis zu Gott näher zu bestimmen suchte. Sehr schnell wurden mit den verschiedenen Hoheitstiteln zentrale Kategorien antiken Denkens auf Jesus übertragen, um ihn als Ort und Medium der Selbstoffenbarung Gottes zu definieren. Es gab keine Entwicklung von einer ‚niedrigen‘ judenchristlichen Christologie hin zu einer hellenistisch synkretistischen ‚hohen‘ Christologie64. Vielmehr bot das hellenistische Judentum von Anfang an zentrale Vorstellungshilfen an, die bei der frühchristlichen Neufüllung von Mittlerwesen und Titeln von Bedeutung waren. Die zentralen christologischen Titel und die Vorstellung eines Mittlers zwischen Gott und Mensch waren zudem für eine eigenständige hellenistische Rezeption offen. Alle wesentlichen mit den Hoheitstiteln verbundenen christologischen Aussagen über Jesus bildeten sich schon geraume Zeit vor Paulus und wurden von ihm mit Traditionen aufgegriffen: Der auferweckte Jesus ist der Sohn Gottes (1Thess 1,10; Gal 1,16; Röm 1,4), ihm wurde der Name Gottes verliehen (Phil 2,9f). Er ist Gott gleich bzw. das Abbild Gottes (Phil 2,6; 2Kor 4,4) und Träger der Herrlichkeit Gottes (2Kor 4,6; Phil 3,21). Als präexistentes Wesen war er am göttlichen Schöpfungshandeln beteiligt (Phil 2,6; 1Kor 8,6), ihm gelten nun Wendungen und Zitate, die eigentlich auf Gott bezogen sind (vgl. 1Kor 1,31; 2,16; Röm 10,13). Sein Platz ist im Himmel (1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20) zur Rechten Gottes (Röm 8,24), von dort aus herrscht er über das All (1Kor 15,27; Phil 3,21) und über die himmlischen Mächte (Phil 2,10). Von Gott gesandt, wirkt er gegenwärtig in der Gemeinde (Gal 4,4f; Röm 8,3), er ist der göttliche Bevollmächtigte bei dem mit seiner Parusie einsetzenden eschatologischen Gericht (1Thess 1,10; 1Kor 16,22; 2Kor 5,10). Diese Anschauungen lassen sich weder systematisieren noch auf ein geschlossenes Milieu zurückführen. Vielmehr ist zu vermuten, dass frühchristliche Gemeinden an verschiedenen Orten Urheber und Tradenten dieser Vorstellungen waren, denn es gab eine vielfältige Jesusrezeption im frühen Christentum. Die Verehrung Jesu neben Gott entstand aus den überwältigenden religiösen Erfahrungen der frühen Christen, wobei insbesondere die Erscheinungen des Auferstandenen und das gegenwärtige Wirken des Geistes zu nennen sind. Als ein weiterer wesentlicher Faktor innerhalb dieses Prozesses muss die Gottesdienstpraxis der frühen Gemeinden gelten. 1Kor 16,22 (‚Maranatha‘ = „unser Herr, komm!“) zeigt, dass die einzigartige Stellung und Bedeutung des erhöhten Christus von Anfang an die Gottesdienste bestimmte (vgl. auch 1Kor 12,3; 2Kor 12,8)65. Er ermöglichte den neuen Zugang zu Gott, der im geistgewirkten Gebetsruf ἀββά (‚Abba‘ = „Vater“: Gal 4,6; Röm 8,15; Mk 14,36) im Gottesdienst bekannt wird. In der liturgischen Praxis galt: „Rühmet Gott und den Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (Röm 15,6). Taufe, Herrenmahl und Akklamationen stehen in exklusiver Beziehung zum Namen Jesu, wobei die Vielfalt der Anschauungen auf die ihnen zugrunde liegende neuartige und umstürzende religiöse Erfahrung verweist. Neben die theologische Reflexion trat somit die gottesdienstliche Anrufung und rituelle Verehrung Jesu als ein weiterer Haftpunkt für die Herausbildung, Entfaltung und Verbreitung christologischer Vorstellungen.

      Das Wirken, das Geschick und das Weiter-Wirken Jesu Christi führte die Christusgläubigen zu der Einsicht, dass in ihm Gott selbst handelte und gegenwärtig bleibt.

      Mythos

      Dies war nur in der Form des Mythos aussagbar (ὁ μῦϑος = Rede, Erzählung von Gott bzw. den Göttern), denn hier musste die Geschichte geöffnet werden für etwas, was rein geschichtlich nicht mehr darstellbar ist: Gott wurde Mensch in Jesus von Nazareth. Diese Verflechtung der göttlichen Welt mit der menschlichen Geschichte kann nur in der Form des Mythos formuliert und rezipiert werden. Der Mythos ist ein kulturelles