Ich liebte es, die Menschen auf ihren persönlichen Reisen und dem Weg dorthin zu beobachten. Manche liefen hektisch die Gänge entlang, um noch rechtzeitig einzuchecken. Einige hatten alle Zeit der Welt, weil sie dem Flughafen einfach nur einen Besuch abstatteten oder sich Stunden vor dem Check-in auf den Weg gemacht hatten. Andere wiederum gingen ihren Berufen nach. Das Flughafenpersonal an erster Stelle, aber natürlich auch Piloten oder Stewardessen. Meistens zogen sie in einer Gruppe durch die Abflughalle und trugen sehr coole Sonnenbrillen. Weil sie glaubten, sie seien sehr cool. Dass bei dem einen oder anderen genau das Gegenteil der Fall ist, hatte ich allerdings nach einem One-Night-Stand mit einem Co-Piloten erfahren müssen. Ich war mit einer Gruppe Mädels morgens gegen sechs Uhr von Köln nach Mallorca geflogen, um den Junggesellinnenabschied meiner besten Freundin am Ballermann zu feiern. Das hatten wir auch getan. Ausgiebig. Und auf dem Rückflug, am selben späten Abend, war ich die Einzige meiner zwölfköpfigen Reisegruppe gewesen, die einigermaßen nüchtern war. Deshalb blieb es mir auch nicht verborgen, dass besagter Co-Pilot bei seinem Gang ins Flugzeuginnere auf dem Weg zur Bordtoilette über seine obercoole Ray-Ban schaute und Augenkontakt zu mir suchte. Und fand. Mit unwiderstehlichem Blick schaute er mir erst in die Augen und checkte binnen Sekunden den Rest. Genauer betrachtete er meine Körperregionen dann zumindest zu Beginn der folgenden Nacht, die wir spontan im Holiday Inn am Flughafen verbrachten. Was vielversprechend begann, entpuppte sich schnell zum gewöhnlichen Einerlei. Ich war schon genervt, als er statt mir und sich die Kleider vom Leib zu reißen, fein säuberlich jedes Teil seiner Uniform über den stummen Diener hängte. Sogar Socken und Unterhose. Seine körperliche Ausdauer reichte gerade mal für einen Orgasmus, nämlich seinen. Und nach nur wenigen Sekunden war alles schon wieder vorbei. Danach schlief er ein, schnarchte durch seine offenbar verstopfte Nase, die ich mir ob seines Mundgeruchs auch gewünscht hätte, und ließ sich durch nichts mehr aus der Nachtruhe bringen. Um wenigstens dem Schnarchen ein Ende zu bereiten, hätte ich ihm gerne die Nase immer mal wieder zugehalten. Die Versuchung war wirklich groß gewesen, aber die Angst, den schleimigen Glibber berühren zu müssen oder dass der mir dabei unter den Händen wegstirbt, war zu groß. Statt einfach zu gehen, ärgerte ich mich die ganze Nacht neben ihm und starrte für 109 Euro ohne Frühstück endlose Stunden lang die Zimmerdecke an.
Also schnell wieder ins Hier und Jetzt.
„Ist noch was?“, fragte Andreas, dem ich wohl eine Spur zu lange verharrt hatte.
„Nein, entschuldige. Ich habe nur nachgedacht“, rechtfertigte ich mich und verließ das Zimmer exakt auf dem Weg, den ich gekommen war. Wir warteten auf Oliver Neyer. Jeder in seinem eigenen Büro und mit seinen eigenen Gedanken. Ich wurde um 16.50 Uhr von unserer Pförtnerin Evelin Patsch über seine Ankunft informiert.
„Hallo Sara, Herr Neyer ist hier. Kommst Du ihn abholen oder soll ich ihn zu Euch rauf schicken?“
„Danke Evelin, ich komm ihn abholen. Bis gleich.“
Mit etwas mehr Zeit, hätten sie und ich jetzt ein wenig geplaudert. Wir kannten uns von den täglichen Begegnungen beim Betreten und Verlassen des Präsidiums und auch von der Karnevalsparty. Karneval verbindet eben. Er brachte die Menschen zusammen. Bildete Freundschaften oder Paare und es kam nicht selten vor, dass gut neun Monate nach Rosenmontag kleine Narren auf die Welt kamen.
Ich verzichtete auf den Aufzug und lief durch das Treppenhaus nach unten, um Oliver Neyer abzuholen. Er war sehr viel verschlossener und zurückhaltender als bei unserem ersten Treffen vor nur wenigen Stunden. Auf seinen Anruf und die Nachricht auf meiner Mailbox ging ich nicht mehr ein und brachte ihn ohne weiteren verbalen Zwischenfall in einen unserer Besucherräume, wo ich ihn über den Ablauf im Einzelnen informierte.
„Warten Sie bitte hier, Herr Neyer. Mein Kollege kommt Sie gleich abholen und wird mit Ihnen nach unten gehen.“
Wie abgesprochen, ließen wir ihn dann etwa zehn Minuten warten und über eine Kamera beobachten. Außer, dass er sich imaginär die Nägel reinigte und überschüssige kleine Hautfetzen von den Rändern des Nagelbettes abkaute, gab es nichts zu sehen. Wenigstens bohrte er nicht in der Nase. Frank Labonte übernahm die Leichenschau und begleitete Herrn Neyer in Halle 1 im Untergeschoss – wo unsere Toten aufbewahrt wurden, bis sie auf ihre letzte Reise gingen. Bei zwei Grad. Für ein Einfrieren zu warm und für die Beschleunigung des Verwesungsprozesses zu kalt. Es war demnach nicht davon auszugehen, dass sich ihr optischer Zustand noch weiter verschlechtert oder dramatisch verändert hatte. Schon nach ungefähr 10 Minuten waren die beiden wieder im Büro und berichteten Andreas und unserem Polizeipräsidenten vom Ergebnis. Es handelte sich definitiv um Lena Grimm, 42 Jahre alt, geboren in Siegburg, verschwunden vermutlich Anfang März – aufgefunden ungefähr sechs Wochen später. Tot. Oliver Neyer war immer noch geschockt, das konnte man ihm ansehen.
„Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen“, sprach er in den Raum, ohne mit jemandem Blickkontakt aufzunehmen. Schweißperlen hatten sich auf seiner hohen Stirn und oberhalb der Lippe gebildet, weshalb ich ihm vorsorglich einen Stuhl zuschob. Er sackte sofort hinein, blieb dankbar sitzen und für den Rest der Befragung sprachlos, sodass Frank für ihn das Wort übernahm.
„Herr Neyer konnte sie anhand ihrer ca. 15 cm langen Kaiserschnittnarbe und dem darüber gestochenen Tattoo ‚Louisa‘ zweifelsfrei identifizieren“, übernahm Frank die Zusammenfassung. Das hieß, dass Herr Neyer sie definitiv auch unbekleidet kennen musste, was ihn natürlich in unseren Fokus setzte und spontan zu meinem persönlichen Verdächtigen Nr. 1 machte. Trotz seiner gezeigten Erschütterung.
„Sie hat vor fünf Jahren ihr ungeborenes Kind im neunten Monat bei einem Autounfall verloren. Ihr Bauch war auf dem Fahrersitz zwischen Sitz, Airbag und Armaturen eingeklemmt worden. Die Ärzte in der Uni-Klinik hatten wohl noch versucht, es per Kaiserschnitt lebend auf die Welt zu holen. Aber Louisa war regelrecht im Mutterleib zerquetscht worden. Ihr kleiner Brustkorb hatte sich komplett nach innen verschoben und nahezu alle Organe zum Versagen gebracht. So, als hätte sie keine Rippen“, wiederholte Frank, das was Herr Neyer ihm in den wenigen Minuten erzählt hatte.
„Frau Grimm hatte wohl gerade erst begonnen, die Ereignisse von damals hinter sich zu lassen“, gab Frank weiter, was Oliver Neyer wie unter Schock zu Protokoll gegeben hatte. Dieser nickte kaum merklich und kauerte mit gesenktem Kopf immer noch auf unserem Bürostuhl. Jetzt trat auch mir kalter Schweiß aus allen Poren und ich beneidete ihn um die Sitzgelegenheit, die er nicht zu verlassen beabsichtigte. Ich musste standfest bleiben und hielt mich mit der rechten Hand an der Schreibtischplatte fest.
Wir waren alle merkbar geschockt und empfanden tiefes Mitgefühl. Für Lena, aber auch für Herrn Neyer.
„Schrecklich!“, meinte Andreas und man konnte ihm anmerken, dass er sofort wieder in sein eigenes Schicksal abdriftete.
„Vielleicht war Neyer der Vater des ungeborenen Kindes und sie hatten sich über irgendetwas gestritten, was dann eskalierte“, überlegte Frank, als Herr Neyer nach der Toilette gefragt hatte und wir für einen kurzen Augenblick allein im Büro waren. Andreas schaute ihn scharf an und teilte die Auffassung offensichtlich nicht. So oder so war es für eine Vorverurteilung zu früh und wir mussten versuchen, an diesem Punkt neutral zu bleiben, bis sich gegebenenfalls ein konkreter Verdacht abzeichnete. Für einen Haftbefehl würde diese Annahme alleine nie und nimmer ausreichen. Herr Zartmann, unser zuständiger Staatsanwalt, würde nur müde lächeln. Da uns der Todeszeitpunkt von Frau Grimm unbekannt war, machte es auch keinen Sinn, Herrn Neyer nach einem Alibi zu fragen. Als Frank ihn zum Ausgang begleitete, bat er ihn, für weitere Fragen unbedingt erreichbar zu bleiben.
„Jetzt wissen wir definitiv, dass es Lena Grimm ist.“ Andreas ging schnell zur Normalität über und nahm mich ran. „Sara, sichte bitte alle Fakten im Hinblick auf Parallelen zu anderen Fällen – auch bundesweit. Und versuch, so viel wie möglich über sie und ihr Leben herauszubekommen.“
Wie aufregend – ich durfte endlich tief in die Theorien der Ermittlungen