Erleichtert schaute ich in der Pathologie vorbei, in der Hoffnung, Carlo zu treffen und vielleicht sogar schon den vorläufigen Obduktionsbericht mitzunehmen. Carlo war nicht zu sehen, aber sein Kollege, Stefan Oberste, überließ mir zunächst das elf Seiten umfassende Statement über den aktuellen Fund in einem nicht verschlossenen Umschlag, auf dem „Streng vertraulich“ vermerkt war. Wie paradox. Er bat mich, einen Augenblick zu warten, weil ich ihm die Entgegennahme noch quittieren müsse. Während er die dafür notwendige Bescheinigung holte, konnte ich nicht widerstehen und warf noch vor Ort einen heimlichen Blick ins Innere der Akte. Das Wichtigste versuchte ich mir einzuprägen. Aber gerade als ich die Hinweise auf die Todesursache gefunden hatte, kam Stefan Oberste wieder und erbat den Umschlag von mir zurück.
„Es tut mir leid. Ich darf Ihnen den Bericht nicht aushändigen. Der Chef meint, der Empfänger des Dokumentes muss einen polizeilichen Dienstgrad nachweisen können oder sich wenigstens in einer Ausbildung zum Polizeibeamten befinden.“
Wollte er mich verarschen? Das war ja kaum zu glauben! So viel Sturheit hatte ich Carlo gar nicht zugetraut. Oder war das tatsächlich eine Vorschrift? Ehrlich gesagt, kannte ich die Regel nicht. Da ich es nicht besser wusste, reichte ich ihm den Umschlag zurück. Ich ärgerte mich mehr, dass Carlo sich nicht einmal bemüht hatte, für diese Information persönlich aus seinem Büro zu kommen. Es kränkte mich und ließ mich an meiner Gefühlslage leise zweifeln. Ich wollte mich auf keinen Fall wieder in solch einen Macho verlieben, der seine Macht über mich und meine Gefühle ausüben wollte. Lieber würde ich das Ganze im Keim ersticken und im Zweifel für den Rest meines Lebens Single bleiben. Ich schüttelte mich und die Gedanken ab. Sollte er wirklich Spielchen mit mir spielen wollen, sollte er gar nicht so viel Raum dafür bekommen. Also Blick nach vorne und das Augenmerk auf das Wesentliche richten, nämlich die beiden toten Frauen.
Ein paar Fakten des Berichts hatte ich versucht, mir zu merken. Geschrieben stand, dass die jetzt gefundene Leiche zwar minimale Missbrauchsspuren aufwies, das Opfer aber weder vor, noch nach seinem Versterben vergewaltigt worden war. Vom Rest verstand ich nicht viel, geschweige denn, konnte ich mit den lateinischen Begriffen etwas anfangen. Fachchinesisch halt. Manchmal fragte ich mich, wie man mich mit so wenigen kriminalistischen Grundlagen eingestellt haben konnte. Der einzige Bezug, den ich zu Recht und Gesetz herleiten konnte, war meine Ausbildung zur Anwaltsgehilfin, die ich vor fast 25 Jahren absolviert hatte. Einiges, wenn nicht sogar das meiste von dem, was ich mal mühsam gelernt hatte, dürfte demnach überholt sein oder ich es ohnehin vergessen haben. Aber meine Neugierde für diesen Berufszweig hatte meinen Ehrgeiz entwickelt und vorangetrieben, sodass ich heute hier saß. Und zumindest ich war mir sicher, meinen Weg zu machen. Ständig gingen mir Szenarien durch den Kopf, wie ich in meiner imaginären Welt zur Aufklärung beitragen würde. Ein wenig naiver Größenwahn schwang wohl immer mit und trieb mich an.
NEUNZEHN
Zurück im Büro fand ich zwar nicht meine beiden Chefs, dafür aber einen vollen Schreibtisch. Angesammelt hatten sich ein paar Seiten handgeschriebener Notizen von Andreas und ein Stapel der noch offenen Vermisstenakten der letzten Jahre, die eine Verbindung zu den aktuellen Fällen haben könnten. Ich rief Andreas an.
„Hallo. Ich bin wieder zurück. Leider hat mir Stefan Oberste den Obduktionsbericht nicht gegeben und mir auch nichts über den Inhalt verraten. Ruf ihn besser selbst an. Oder sprich mit Carlo – vielleicht kann er Dir sein blödes Vorgehen erklären.“
„Da könnte ich ausrasten!“, hörte ich ihn in den Hörer brüllen. Er war wirklich sehr wütend und es klang, als hätte er das ganze Telefon mit dem Frust über die stockenden Ermittlungen in die Ecke geschmissen. Ich musste mich erst mal schütteln, bevor ich weitermachen konnte. Obwohl ich genau wusste, dass er mit seinem Ausbruch diesmal nicht mich meinte, fühlte ich mich wieder angegriffen und brauchte ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Aber die Zeit drängte und für Befindlichkeiten gab es keinen Raum. Zuerst setzte ich mich daran, den Bericht zu verfassen.
Das Schreiben war definitiv meine Stärke und hatte mir im Bewerbungsverfahren durch meine Arbeitsprobe einen großen Vorsprung zu den zahlreichen Mitbewerbern verschafft, die scharf auf den Posten waren. Gelegentlich wurden sogar Auszüge oder ganze Texte für Presseberichte weiterverwendet. Bevor ich gedanklich und selbstverliebt abdriftete und mich schon als Pressesprecherin der Polizei Köln sah, holte ich mir noch einen Kaffee aus unserem wunderbaren Kaffeeautomaten, der das Heißgetränk auf Knopfdruck schäumend in meinen Becher tröpfelte. Er lief durch, wie eine zu schnell eingestellte Infusion und duftete wundervoll. Wie beim Italiener. Bei geschlossenen Augen begab ich mich gedanklich in die Bar Fondi in Rom, lauschte dem Palaver der Einheimischen und genoss den Geschmack des Espressos, wie ihn nur die Italiener rösten. Und schon hatte ich die Ansage von Andreas vergessen. Mehr oder weniger jedenfalls.
Vor seinem Ausraster hatte er seine eigenen Gedanken auf verschiedenen Zetteln notiert. Einer davon klebte jetzt an meinem Bildschirm: „TOWER FLUGHAFEN!!!“ Er wollte wohl die Fluglotsen dort nach Auffälligkeiten der letzten Wochen befragen. Zumindest war das meine Interpretation seines Hinweises und machte im Hinblick auf den Fundort auch Sinn. Häufig wurden aus der Vogelperspektive, und das bot der Tower mit seiner Gesamthöhe von 56 Metern definitiv, Situationen wahrgenommen, die dem normalen Beobachter verborgen blieben. Ich tippte die Notizen ab, formulierte sie und brachte den Bericht in Form. Bis auf ein paar kleine Änderungen übernahm Andreas diesen Entwurf und stellte ihn zur elektronischen Akte, die auch alle anderen Kollegen mittels Kennwort einsehen konnten. Es war wichtig, und das war mir von Anfang an eingebläut worden, dass alle immer einen einheitlichen Wissensstand hatten und jeder Mitwirkende jederzeit auf vorhandene Informationen zugreifen konnte. Egal wo und wer man im Team war.
ZWANZIG
Auf einem weiteren gelben Post-it hatte Andreas in Großbuchstaben „MIETWAGEN“ gekritzelt. Der Zettel klebte unübersehbar mitten auf meinem Bildschirm, der im Übrigen voll von diesen Dingern war. Wie das Pickelgesicht eines 16-Jährigen in der Blütezeit der Pubertät. Ein Arbeiten mit diesem PC war nicht möglich, ohne die Zettel abzunehmen und alle Punkte wegzuarbeiten. Ein paar Unklarheiten blieben und ich ging drei Zimmer weiter in das Büro von Andreas, um ihn zu fragen. Als wäre nichts gewesen, saß er innerlich aufgeräumt an seinem Schreibtisch und war die Ruhe in Person.
„Du musst die am Flughafen ansässigen Autovermieter aufsuchen und Dir die Listen der regelmäßigen Mieter der letzten 12 Monate geben lassen.“
„Okay und dann?“
„Schau sie Dir an und mach daraus eine, auf der nur noch diejenigen stehen, die mehr als einmal ein Fahrzeug gemietet haben. Und das machst Du bei allen Firmen und vergleichst auch diese miteinander auf Parallelbuchungen.“
Das macht Sinn.
„Zieh denen alles aus der Nase. Wirklich alles. Und notier es – auch wenn es Dir nicht wichtig erscheint.“
Gespräche mit den Fluglotsen im Tower würde Andreas selbst übernehmen. Er begeisterte sich für die Fliegerei und liebte Besuche im Tower. Der Eingang war allerdings so ohne weiteres nur wenigen Menschen vorbehalten und ein freier Zugang für Bürger ausschließlich im Rahmen eines „Tag der offenen Tür“ möglich. Und dafür gab es in der Regel meterlange Wartelisten. Offenbar interessierten sich viele Menschen für das Wirken dort oben und Technikfreaks schauten den Lotsen gerne über die Schultern. Da Andreas einen der Beschäftigten gut kannte, stand er hin und wieder mit auf dieser Liste und konnte seinem Hobby frönen. Aber so, mit beruflicher Notwendigkeit, war es natürlich einfacher. Es war zwar nicht zu erwarten, dass die Lotsen etwas gesehen hatten, manchmal jedoch meldeten Piloten Auffälligkeiten, die sie im Landeanflug aus geringer Höhe wahrnahmen. Hier und da hatte es zum Beispiel in der Region kleinere Flächenbrände gegeben, die dadurch rechtzeitig bemerkt und gelöscht werden konnten.
Die Befragung dort überließ ich gerne meinem Chef. Mir schien die Arbeit in einem Tower ohnehin zu unruhig, als dass ich mich in dem kleinen