Demokratietheorien. Rieke Trimcev. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rieke Trimcev
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783734412417
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(1316-34) auszufechten hatte und der die abendländische Welt weiter spaltete und in Unruhe versetzte, erforschte Marsilius die Ursachen des Streitens unter den Menschen, um so die Voraussetzungen für einen künftigen Frieden zu ermitteln (Defensor pacis I,1,7). Mit aristotelischen und christlichen Mitteln, rationalistischer Argumentation und Bibel-Zitaten begründete er die Notwendigkeit einer strikten Scheidung der geistlichen und weltlichen Sphäre und beschrieb das Streben der römischen Bischöfe nach Suprematie und Weltherrschaft (plenitudo potestatis) als Ursache des Unfriedens und des ewigen Streits (I,19; II). Sollen Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen obwalten, so ist die Herrschaft des Gesetzes nötig, das vom Volk (populus seu civium universitas) bzw. seinem bedeutenderen Teil (pars valencior) erlassen wird und auch die weltlichen Machthaber und die Inhaber der geistlichen Ämter bindet (I,18,3). Marsilius wurde so zum Vordenker des neuzeitlichen Staates, indem er die Politik aus der religiösen Umklammerung löste, die Regenten auf das Gemeinwohl verpflichtete und die Legitimität der Herrschaft in ihrer Rückbindung an den Willen der Bürgerschaft suchte. Er wurde zugleich zum Vorläufer des späteren Konstitutionalismus, indem er zwar noch keine Bürgerfreiheiten gegen einen despotischen Staat postulierte, aber doch den Machthabern positiv-rechtliche Schranken setzen und sie der Kontrolle durch den Gesetzgeber bzw. einen von ihm bestellten Ausschuss unterwerfen wollte. Er begründete darüber hinaus den Gedanken der Volkssouveränität, der ins Zentrum der modernen Demokratietheorie rückte.

      Den Ausgangspunkt seiner theoretischen Ableitung bilden nicht mehr die göttlichen Ver- und Gebote, sondern die Erfordernisse des menschlichen Zusammenlebens. Ihren Zielpunkt markieren nicht länger die Bestimmungen der Glückseligkeit und des ewigen Heils, sondern die Bedingungen und Formen, Mittel und Wege zur (Wieder-)Herstellung des irdischen Friedens. Mit Aristoteles erblickt Marsilius den Ursprung der Gemeinschaft (I,3) im menschlichen Streben nach Selbsterhaltung, d.h. im bloßen Überlebenwollen, ihren Endzweck (I,4) hingegen im „guten Leben“, d.h. in einem befriedeten und geglückten Dasein. Da aber schon das bloße Überleben infrage gestellt war, verlagerte sich der Akzent von der Zweck- (causa finalis) auf die Wirkursache (causa efficiens). Erforderlich zur Sicherung des Friedens ist nach Marsilius ein Regiment, in dem der weltliche Herrscher die geistlichen Würdenträger kontrolliert und über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens wacht. Anstatt die Politik zu dominieren und ihre Richtlinien zu bestimmen, hat die Religion in ihren Dienst zu treten und sich dem Ziel der Friedenssicherung unterzuordnen. Die Priester und Pastoren haben unverzichtbare pädagogische und zivilisatorische Funktionen („Seelenpflege“), von den politischen Angelegenheiten haben sie sich aber fernzuhalten. Damit war die traditionelle christliche Lehre von den zwei Gewalten, dem Mitund Gegeneinander des geistlichen und weltlichen Schwertes, zugunsten einer einheitlichen weltlichen Gewalt preisgegeben, die zugleich über den Klerus gebietet (II,18,9).

      Mit seinen eindringlichen Analysen hat Marsilius die Grundsätze der künftigen Politik formuliert. Mithilfe seiner begrifflichen und theoretischen Klärungen ließ sich nicht nur die Politik Ludwigs des Bayern gegenüber der Papstkirche in Avignon rechtfertigen, auch die westlichen Monarchien und die lombardischen Städte konnten sich in ihrem Streben nach Selbstständigkeit und Autonomie auf den Defensor pacis berufen. Dieser konnte so zum Ausgangspunkt des künftigen Staatsdenkens werden. Die späteren Reichsapologeten hingegen taten sich schwer mit dem Gedanken der Volkssouveränität, durch den die Entscheidung über die Verfassung und die konkrete Form der Regierung in die Hände der Bürgerschaft gelegt wurde und die Idee der Universalmonarchie als disponibel und letztlich als überflüssig erschien. Auf dem von Marsilius geebneten Weg konnten spätere Staatstheoretiker – von Machiavelli bis Hobbes, von Locke und Rousseau bis hin zu Hegel – weiterschreiten. Ziel der Politik ist nicht mehr die Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Friedenssicherung und die Ermöglichung eines einträchtigen Zusammenlebens. Dazu ist weder eine Universalmonarchie noch eine vom Papsttum beherrschte Anstaltskirche nötig. Es genügt, wenn sich die Städte und Provinzen ordentlich verwalten und – bei Bedarf – zu größeren Reichen oder zu Staaten zusammenschließen, in denen die Gesamtheit oder ihr „bedeutenderer Teil“ die Geschicke des Gemeinwesens bestimmt.

      → Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2040

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