Demokratietheorien. Rieke Trimcev. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rieke Trimcev
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783734412417
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Unabhängigkeit gegen das hegemoniale Bestreben der Visconti verteidigen musste, die seit 1277 Mailand beherrschten, gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein Königreich zu errichten strebten und die Autonomie der meisten Städte im Norden und vieler in Mittelitalien beendeten. Italien als Ganzes war seinerzeit durch Parteikämpfe zerrissen. Seit dem Ende der Staufer waren die italienischen Stadtrepubliken in permanente Kriege miteinander verstrickt, aus denen die Pentarchie der fünf großen Signorien oder Principati Florenz, Mailand, Venedig, Rom und Neapel hervorgegangen war. Italien wurde ferner zum Objekt der Begierde der um Vorherrschaft in Europa kämpfenden Großmächte. Die italienischen Städte mussten fürchten, in den Konflikten zwischen Habsburgern, Frankreich und Aragon zerrieben zu werden, und sich folglich nicht nur gegeneinander verteidigen, sondern auch gegen die drohende Fremdherrschaft zur Wehr setzen. Die Sehnsucht nach Frieden, nach Einigkeit und Freiheit Italiens veranlasste die dortigen Humanisten zu radikalen Reflexionen über die Conditio humana und trieb sie auf die Suche nach alternativen Formen der politischen Organisation, die sie – wieder einmal – in der glorreichen Vergangenheit, d. h. in der altrömischen Geschichte vorgebildet fanden. Im Bemühen um Abwehr der Fremdherrschaft und Aufrechterhaltung der republikanischen Ordnung aktualisierten die humanistischen Denker der Frührenaissance in Florenz die antike Partizipations- und Selbstverwaltungsidee.

      Damit begründete der Florentiner jene Politiktradition, die bis heute unter dem pejorativen Titel Machiavellismus zusammengefasst und als skrupellose Machtpolitik oder „Dämonie“ perhorresziert wird. Machiavelli selbst war jedoch kein Machiavellist, sondern verzehrte sich in der patriotischen Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen Italiens und seiner Befreiung von französischer, deutscher und päpstlicher Fremdherrschaft. Durch seine so motivierten theoretischen Leistungen wurde er zum bahnbrechenden Klassiker des politischen Denkens und zum Ausgangspunkt zweier gegensätzlicher politischer Strömungen. Seine theoretische Neuerung liegt in der Emanzipation des Politikdenkens von den überkommenen religiösen und moralisch-sittlichen Einbindungen. Er schuf eine Terminologie, die es erlaubte, politische Interessen (wieder) in ihrer autonomen Logik wahrzunehmen und ihr gemäß zu definieren und auch zu verfolgen. Diese Einsicht verpflichtete ihn aber keineswegs auf die Tradition des Etatismus (Staatsraison), wie er sie in seinem Principe begründete. Vielmehr konnte sich die aus der religiösen Obhut entlassene Politik durchaus auch republikanisch entfalten – das zeigen die Discorsi, mit denen Machiavelli den Florentiner Bürgerhumanismus beerbte und eine anti-etatistische Denkschule begründete, die den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit in der Amerikanischen und Französischen Revolution erreichte und heute von einigen Autoren wiederbelebt wird. Zwar hatte der gelernte Jurist nur geringe philosophische Kenntnisse, doch gerade dies verschaffte ihm die Distanz, die den radikalen Bruch mit der Tradition und einen Neuanfang ermöglichte. Indem er die christliche Ethik verwarf, gewann Machiavelli eine Position, von der aus die Phänomene der politischen Welt nicht mehr heilsgeschichtlich verklärt erscheinen mussten, sondern in ihrem Eigensinn begriffen werden konnten.