Meine Familie und ihr Henker. Niklas Frank. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Niklas Frank
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783801270346
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weil uns ein gleichfalls vom guten Wein aus Vaters Keller beschwipster Soldat erschießen wollte. Er hatte aber nicht mit der Unerschrockenheit meiner Mutter gerechnet. Die kanzelte ihn eiskalt und laut, aber kein bisschen hysterisch, dermaßen ab, dass er erschrocken das Gewehr sinken ließ und von einem anderen, etwas nüchterneren Soldaten, weggeführt worden ist. Während Gitti und Michel neben der Mutter heulten, war ich seltsamerweise ruhig und dachte, dass der Ami mit dem Gewehr irgendwie Recht hatte, uns zu erschießen.

      Natürlich klingt das unglaubhaft für einen damals 6-Jährigen. Ich hatte auch keine Ahnung, dass unser Vater ein Massenmörder war. Sicher auch noch keine rechte Vorstellung von Sterben und Tod. Vielleicht war es aber auch, dass ich den Grund erahnte: Wir sollten wegen Vati erschossen werden. Und dem hatte ich ja die Brille zerbrochen. Und er hatte mir eine Ohrfeige gegeben. Jetzt kann er dafür büßen, wenn er sieht, dass ich tot bin!

      Wochen später verlangte ein Ami von meiner Mutter den Autoschlüssel, um uns den Maybach wegzunehmen. Mutter wehrte sich, wieder mit lauten Worten, wurde aber mit noch lauteren Worten im Befehlston ruhiggestellt. Ich ging mit dem Ami in unsere Garage und sah dann dieses wunderbare, verwunschene Dunkelgrün der Karosse dicht vor meinen Augen langsam an mir vorbeigleiten.

      Geblieben war uns Mutters blaues Fahrrad. Das wollte ein polnischer Zwangsarbeiter vom Hof, wo es angelehnt stand, mitnehmen. Ich stand neben meiner Mutter in unserer Küche. Sie öffnete das Fenster, nahm wieder jenen Ton an, der zuvor den Ami am Schießen gehindert hatte, und erzielte den gleichen Erfolg. Als ob Mutter noch die volle Power einer mächtigen Frau Generalgouverneur hätte, lehnte der erschrockene Pole das Rad wieder brav an die Hauswand und ging.

      Nachdem Mutter unsere Erschießung verhindert hatte und die Plünderung in vollem Gange war, eilte sie mit uns drei Kleinen ungefähr 300 Meter zu Frau von Langsdorf, direkt unten am Schliersee.

      »Frau von Langsdorf, können wir über Nacht bei Ihnen bleiben? Der Schoberhof wird geplündert.«

      »Ja, ich weiß. Meine ukrainische Magd plündert mit«, antwortete kühl die Ehefrau des ortsansässigen Arztes, der mir sechs Jahre später meinen Blinddarm entfernen und dabei eine 20 cm lange Narbe auf meinem Bauch hinterlassen wird, die Bruder Norman mir wenig hilfreich so erklärte: »Der Langsdorf braucht immer viel Platz, um einen winzigen Blinddarm zu finden.«

      Jetzt allerdings überreichte Mutter dessen Gattin eine große, prall gefüllte Handtasche und bat sie, selbige für ein paar Wochen aufzubewahren. Frau von Langsdorf versprach es und sagte dann: »Frau Frank, Sie dürfen sich oben auf dem Speicher verstecken, müssen sich aber mit Ihren Kindern ganz ruhig verhalten, damit meine Ukrainerin nicht aufmerksam wird.«

      Was für eine Umstülpung für die Herrenrasse! Eben noch oben auf, Vater stolz wie ein Goldfasan, dass er über eine Million Zwangsarbeiter ins Reich deportiert hatte, und jetzt diese Angst der Deutschen vor den eben noch als Untermenschen Behandelten!

      Wir verbrachten die Nacht mucksmäuschenstill auf dem Dachboden, schlichen uns morgens leise aus dem Haus, offensichtlich schlief die vom Plündern des Schoberhofs ermattete Ex-Zwangsarbeiterin noch.

      Wochen später erbat Mutter die Tasche zurück. Frau von Langsdorf gehorchte, war aber Gott sei Dank neugierig genug, einen kurzen Blick hineinzuwerfen: Sie war vollgepackt mit Schmuck!

      Er wurde Mutters Rettung. Allerdings war sie raffiniert genug, diesen sicher von Polen und Juden geraubten Schatz erst einzusetzen, als ihr Mann schon hingerichtet und über zwei Jahre ins zerbombte Land gegangen waren. Dann erst wagte sie, auf ihrem blauen Fahrrad mit ein oder zwei Ringen oder Armbändern zu einem Heim für »Displaced Persons« zwischen Schliersee und Neuhaus zu fahren, um dort bei Juden den Schmuck gegen Lebensmittel einzutauschen. Zwei von ihnen erkannten sie wieder von ihren Raubzügen durchs Krakauer Ghetto und nannten sie weiterhin ironisch »Frau Minister«. Sie machten ein kleines Vermögen, und wir mussten nicht mehr hungern.

      Von all dem wusste Vater nichts. Und wir nicht, wo er abgeblieben war. Mir ging »Vati« in der Erinnerung nicht ab. Den älteren Geschwistern sehr. Michel und ich lebten die neue Freiheit aus. Unsere ach so tapfere und saubere deutsche Armee war auf einen Haufen Herumtreiber zusammengeschmolzen, die sich in den letzten Apriltagen von 1945, als Vater noch starr im Josefstal saß, im Schoberhof einquartiert hatten. Sie versuchten, aus ihren Uniformen Zivilkleidung zu machen und ihre Waffen loszuwerden. So hatten Michel und ich neben Pistolen auch Handgranaten, Gewehre und jede Menge Munition. Geschossen haben wir allerdings nicht. Dafür schlug ich mit einer Zaunlatte meinem Vetter von hinten dermaßen ins Genick, dass der heulend zu seiner Mutter lief. Noch heute sehe ich das runde Loch an seinem Hals, denn am Ende der Zaunlatte lugte ein verrosteter Nagel hervor. War das doch eine Reaktion von mir auf den äußeren Abstieg, das Verschwinden des Vaters, des Maybach, unserer ausländischen Bediensteten?

       »HEIL HITLER« ZUM ÄRGERN

      War das auch der Grund, warum Michel und ich unsere Cousine, die uns nichts getan hatte, auf ein von der Wehrmacht zurückgelassenes Pferd setzten, selbigem auf die Flanken hieben, sodass es wie wild losgaloppierte und die Cousine in den Straßengraben direkt vor dem Schoberhof warf? Ohnmächtig blieb sie liegen. Ihre Mutter kam schreiend herbeigelaufen.

      Michel und ich verzogen uns umgehend, analysierten aber mitnichten, warum wir plötzlich diese nachgerade mörderisch aggressive Art entwickelt hatten, sondern grinsten nur erleichtert, weil wir nicht in Mutters Besenkammer gesperrt wurden. Auch diese Begebenheit erfuhr Vater nicht, ebenso wenig, dass Michel und ich die Volksschulleiterin, Frau Hosp durch das Gartentor mit laut geplärrten »Heil Hitler« Grüßen und mit hoch gerissenem rechten Arm erschreckten. Denn das hatten wir mitbekommen: Seit die Amis einmarschiert waren, sagte kein Mensch mehr die zwei Worte oder riss den Arm hoch. Frau Hosp ließ sich unsere Verhohnepiepelung nicht gefallen, öffnete das Gartentor, wir stoben davon, sie beschwerte sich bei Mutter, und jetzt landeten wir wirklich in der dunklen, stickigen Besenkammer. Mutters Pädagogik war schlicht, aber wirksam.

      Auch sonst veränderte sich das Verhalten der Neuhauser nach Kriegsende erheblich. Ehrerbietung vor der Top-Nazi-Familie war plötzlich nicht mehr in Mode. Die Nachbarbäuerin unterhalb des Schoberhofs ließ einmal ihre neue demokratische Wut an mir aus, putzte mich als verlogenen winzigen Großkopferten, der jetzt gar nichts mehr sei, runter. Das tat weh. Als Tage später ein Jeep hielt und mich der Fahrer fragte, wo’s hier Eier gibt, führte ich ihn zum Eierversteck der Bäuerin unterm Heu, sodass er sich mit Dotter ohne Bezahlung eindecken konnte. Er schenkte mir für meinen Verrat eine der von uns heiß begehrten Ami-Schokoladen. Ich fühlte mich im Recht, weil gerächt.

      In der Schule schrie mir ein Klassenkamerad mal hinterher: »Minister, Minister, Benzinkanister!«

      Der Satz brannte sich mir ein, weil er Verachtung pur war.

      Bruder Norman wurde von einem Bauernburschen, mit dem er noch Monate zuvor fröhlich auf einer selbst gebauten Schanze hinter unserem Haus Skispringen geübt hatte, angeschrien: »Was bist’n Du? Nix bist! Nur a depperter Ministerbankert!« Bankert ist das bayerische Wort für uneheliches Kind. Was nun Norman ganz bestimmt nicht war. Das galt eher für mich.

      Gitti hatte eine gleichfalls zehn Jahre alte beste Freundin namens Inge, zu der sie öfters zum Spielen ging. Ein Nachbar aus der Dürnbachstraße kam hinzu und sagte zum Vater ihrer Freundin: »Das ist aber kein rechter Umgang für deine Tochter!«

      Der Vater antwortete großartig: »Kinder sind immer unschuldig!«

      Offenbar der erste Demokrat mit Empathie im Schlierseer Tal.

      Inges Bruder Wolfgang Hahn, von dem ich diese Erinnerung habe, setzte hinzu: »Über diese kurze Antwort war der Herr Lössel doch a bisserl verschnupft.«

      Das war ich auch, zumindest als es darum ging, wer auf die riesige grüne Schultafel ein ebenso riesiges Hakenkreuz mit Kreide hingequietscht hatte. Der Deckert Schorsch, Hausmeister, nahm mich auf Anordnung der Lehrerin, die in mir den Schmierer entdeckt haben wollte, an der Hand, um mich bis runter zum See zur Schulleiterin, eben jener Frau Hosp, zu bringen. Ich heulte, während wir über die Straße gingen. Zu meinem Glück und zum baldigen Erschrecken vom