Stattdessen stützt Hans Frank jetzt in seiner Zelle weiterhin philosophisch seine Unschuld ab: Wenn man die Mächte des Werdens und Vergehens nicht vernunftgemäß erschließen kann, bleibt nur der ahnungsvolle Glaube, der wie ein magischer Nebel die grauenvolle Kantigkeit umsamtet: Dass die Schlüsse zu einem Anfang gehören, der außerhalb unserer Zonen liegt. Gleich der Wirkung der Sonne etwa, die auch all das Treiben auf der Erde erzeugt, ohne von da aus erreichbar zu sein. Drei Monate – schon! – erst! Wer weiß?
Grabe ich mich mit ihm in seiner Zelle ein, sitze mit dem gleichen Bleistift vor dem gleichen Stück Papier und schreibe, dann fühle ich in mir selbst dieses entsetzliche Hin und Her zwischen Hoffnung und Todesangst. Dieses Gefühlschaos funzelt auch durch seine nachfolgenden Sätze: Das Denken erlahmt. Man hat eine Art von automatischer Denkpolizei in sich, die verhindert, dass farbige Bilder milde lösend durch Dich dahingleiten – Dich streicheln, Dich kosen, und das Tränennass ist der Fluss, über den es kein Zurück mehr gibt zu all’ dem, was Dein war, zu all’ denen, die Dein sind und waren.
»Dein« war einst Brigitte, als ihr Hans sie noch liebte, wie offensichtlich in seinem Brief vom 20. Februar 1930: Herzliebes Weibelen – beide schreiben einander immer Weibelen statt Weibilein, vermutlich ein Schreibfehler von Muttern in ihrer glücklichen Frühzeit, der zur privaten Gaudi kultiviert wurde – Schau, ich habe Dich doch so lieb und leide nur, wenn Du so preußisch-rau-kalt und oft auch direkt lieblos bist. Ich brauche viel Liebe und möchte auch viel Liebe geben. Ich bin so glücklich in dem Gedanken, dass ich Dich habe und Du schöne, liebe Frau allein mein bist, ich möchte noch 16 Kinder von Dir. Aus der Niederung unserer minderwertigen Gegenwart soll gerade unser beider Bund aufragen. So tief, so ewig, so schlicht und wahr liebe ich Dich.
Ewig Dein
Hans
Brigitte Frank um 1942.
Hätte er damals statt seines Unterleibs seinen Verstand aufgepumpt, wäre er auf und davon von dieser rau-kalten Preußin Brigitte!
Der Gefangene, sinniert Hans Frank in seiner Zelle, ist nicht nur der Freiheit beraubt, sondern damit der wesentlichsten Grundlage des Lebens. Deshalb sind seine Gedanken so mühevoll, so wurzellos und gärend verwirrt, weil er hilflos ist, all’ dem Sehnen und Pochen gegenüber, das in ihm sprudelt, das ihn quälend lockt in Betrachtungen der Sehnsucht, der Reue, der Hoffnungslosigkeit.
Fällt ihm bei Sehnsucht sein Brief von 1942 an die wiedergefundene große Liebe Lilly G. ein?
Meine Lilly!
Ich bin so strahlend frisch und froh und stark und glücklich und beschwingt und selig, dass ich weiß, wie alles gut gehen wird. Ich liebe Dich, meine Lilly – mit gottgewollter Innigkeit und schwöre Dir meine Treue und Hingabe bis ins letzte Pianissimo meines Lebens. – Ich strahle Dich an frohgemut – das Neue Leben beginnt. Gott segne meine Lilly und mich! Auf Wiedersehen. –
Ganz herzlichst,
innigst Dein Hans
Doch zu Hause warteten Ehefrau und ein Stall voll Kinder!
Fällt ihm bei Reue sein letztes Telegramm vom 24. Dezember 1944 an Hitler ein?
mein führer
die deutschen krakaus aus allen bereichen und dienststellen
versammelten sich am weihnachtsvortag zu einer kundgebung, in
der in stürmischer begeisterung die treue und hingebungsvolle
dienstbereitschaft zu ihnen, mein führer und ihrem grandiosen
werk machtvoll ausdruck erhielt. Wir beten zu gott,
dem allmächtigen, der sie in so wunderbarer weise in
diesem jahre vor der tücke gemeiner verbrecher bewahrte,
im kommenden jahre ihren waffen den sieg zu verleihen.
heil, ihnen, mein führer.
frank
Ja, vielleicht hat Hans Frank wirklich Reue empfunden, aber die wurde ihm von seiner Gedankenpolizei offensichtlich immer wieder sofort verboten.
Und was fällt ihm bei Hoffnungslosigkeit ein? Da braucht er nicht nachzudenken: Die erlebt er gerade. Sekunde um Sekunde. Tag um Tag. Monat um Monat.
An seinem wackeligen Zellentischchen schreibt er weiter: Und doch! Wären diese Gedanken nicht, dann wäre alles dahin. Nur sie sind es ja, die den Gefangenenzustand vom Tod noch unterscheiden, abgesehen vom rein animalisch-organischen Vegetieren. Oh, Du Gedanke des Alls, das Urgeheimnis und letzten Bewusstseinspunkt verbindet – Du bist das geistige Fundament der inneren Souveränität, die bleibt, wenn die äußere der Persönlichkeit genommen ist.
Mein Vater eine Persönlichkeit? Die hätte doch etwas mit Seriosität, Ehrlichkeit, Empathie und entschlossener Handlungsdynamik zu tun.
Das sieht auch Psychologe Kelley so: »Je bedeutender Franks Stellung wurde, desto anmaßender benahm er sich. In seinem eigenen Fach erwuchsen ihm viele Gegner, denn er war im nationalsozialistischen Staat das Werkzeug der Zerstörung altüberkommenen Rechts. Frank war es, der am meisten dazu beitrug, die These zu begründen, dass das ›Deutsche Recht‹ nicht das Individuum zu schützen, sondern der Nation zu dienen hätte – nämlich Hitler und seiner Partei.«
Dabei hatte er noch in der Weimarer Republik Jura studieren können, das deutsche Recht, das aus dem römischen entstanden war.
»ICH KLAGE NICHT, ICH WARTE«
Statt sich schriftlich über seinen Verrat am Recht Gedanken zu machen, philosophiert er voll des Selbstmitleids weiter: Der Gefangene ist die Antithese Gottes: der der Freieste aller ist und daher ein Widerspruch zur Schöpfung. Die Gefangenschaft ist auch zu allen Zeiten nicht Gottes, sondern der Menschen Werk. Was die Feinde über uns noch alles verhängen werden, weiß ich nicht. Unschuldig, wie ich mich fühle und bin, sehe ich mit Gottes Trost allem entgegen. In Essen steht ein Denkmal, es ist den in den Ereignissen des Jahres 1923 gestorbenen Ruhrarbeitern gewidmet, darunter steht: »Deutschland! Wehe denen, die Dich lieben!«
Das ist es wohl.
Das ist es wohl bei ihm: Noch kein Prozess, noch keine vorgelegten Beweise für seine Verbrechen, aber schon das Endurteil gesprochen: Unschuldig, weil Deutschland liebend.
Meine Kleidung ist interessant und zeigt mir die ganze Gutmütigkeit mancher amerikanischen Männer, die um mich in diesen Monaten besorgt waren. Ich trage ein amerikanisches Soldatenjackett, eine amerik. Militärhose und feste deutsche Militärstiefel, an deren Stelle ich bei leichtem Sommerwetter ein Paar amerikanischer Militärschuhe mit Gummisohlen trage.