Noch hat der Prozess nicht begonnen. Seinen Verteidiger hat er allerdings schon: Dr. Seidl, aus München, so kurz gewachsen, dass der Mitangeklagte Herrmann Göring über ihn spottet: »Der kann ja kaum übers Rednerpult schauen!«
Mein Vater mag Dr. Seidl. Der ihn weniger. Als ich ihn Jahrzehnte später interviewte, wollte er viel lieber über seinen anderen Mandanten, den Wirrkopf Rudolf Heß, sprechen. Ich vermute, Seidl konnte meinen Vater wegen seiner immer stärker werdenden Frömmelei nicht leiden.
Die Frank-Kinder: Norman, Michel, Niklas (»Niki«), Sigrid, Gitti, Schoberhof 1941.
»Haus Bergfrieden«, in dem er bis zu seiner Festnahme sein Büro hatte, liegt im Neuhauser Ortsteil Josefstal. Dort schlief er auch. Nur hin und wieder besuchte er in den drei Monaten zwischen Flucht und Verhaftung den Schoberhof, einen umgebauten Bauernhof, in dem seine Ehefrau Brigitte mit uns fünf Kindern lebte. Die ältesten Drei, Sigrid, Norman und Gitti, haben unter der Trennung ihrer Eltern schwer gelitten. Am meisten Gitti, damals 10 Jahre alt. Michel und ich sicher auch, wenn auch zunächst nicht den Tag bestimmend: Zu spannend war die Zeit des Untergangs des Dritten Reiches!
Da die Eltern die meiste Zeit ihres Lebens während der Naziherrschaft außer Haus ihrem Vergnügen des Einkaufens und Mordens frönten, blieb die Erziehung in Händen von Hilde, einer wunderbaren, lustigen, herzlichen Frau von Mitte Zwanzig. Alles, was an den Frank-Kindern humorvoll, menschlich, mitfühlend war, stammte von ihr.
Als ich sie für mein erstes Buch besuchte, damit sie mir all die merkwürdigen Erinnerungsblitze, die ich mit mir herumtrug, in einen aufklärenden Zusammenhang brachte, war sie schon total verkrebst, hatte aber noch immer ihr herzliches Lachen und gestand mir zum Schluss, dass unser Koch auf dem Schoberhof einmal aus Ärger über »Frau Reichsminister«, die gegenüber ihren Angestellten wieder einmal beinhart gewesen war, in der Küche auf einen Stuhl stieg und in die Suppe pieselte, bevor sie serviert wurde.
»Und weißt du, Niki, was deine Mutter danach beim Raustragen der Teller zur Serviererin gesagt hat? ›Bestellen Sie bitte dem Koch: Die Suppe war köstlich!‹«
Bei diesem Herrschaftsessen für die ortsansässigen Nazi-Honorablen war Vater nicht anwesend. Weswegen er auch nicht wie sein inzwischen uralter jüngster Sohn über diese Szene schmunzeln kann. Am 26. August 1945 beschreibt er weiter sein Leben in der Zelle: Ich blicke in den Abdruck des Kopfes des heiligen Florian unseres berühmten Meisters von Kefermarkt, eines prachtvoll ernsten Mannesantlitzes, das in Erz dem innen gerichteten Blicke des um seine Leidensberufung Wissenden ergreifende Wirkung bietet. Es ist der künstlerische Schmuck der Zelle des Nürnberger Gefängnisses, die nun die mir verbliebene irdische Zone umfasst. Ich habe dieses Blatt aus einem deutschen Zierkalender mitgebracht, der uns in dem Luxemburgisch-Mondorfschen Palasthotel gegeben worden war, um in ihm mit Lust und geistiger Angeregtheit den Ablauf unserer Interniertenlaufbahn zeitlich registrieren zu können. Über drei Monate weilte ich da im Kreise all der Männer, die man aus der Epoche Adolf Hitlers kannte, und die da eingefangen vom Sieger hinter Gittern gepackt wurden. Über vierzig Männer weilten dort in leidlich erträglichen äußeren Umständen, sehr anständig behandelt und gepflegt. Das Hotel in Mondorf machte ein etwas gequältes Gesicht zu der ihm zugemuteten Aufgabe, Behältnis für politische Männer zu sein, die von ihren siegreichen Feinden als Verbrecher bezeichnet werden.
Im Juli 1945 hatte der deutsche Journalist und Schriftsteller Walter Hasenclever die Inhaftierten in Mondorf besucht und einen ganz anderen Hans Frank erlebt, dessen Verhalten einen zum Fremd-Schämen, in meinem Fall zum Familien-Schämen bringt: »Generalgouverneur Hans Frank hatte in Mondorf eine besondere Nische. Er tat sich mit keinem zusammen; von morgens bis abends, wenn er nicht gerade beim Essen oder beim Verhör war, wandelte er auf der Terrasse vor dem Hotel mit einem Gebetbuch auf und ab und tat Buße. Er murmelte Gebete, sprach den Rosenkranz und widmete jede freie Minute der Selbstzerknirschung. Er war allerdings auch sorgfältig darauf bedacht, bei diesen Übungen von allen gesehen zu werden. Seinen Mitgefangenen war er lästig, und sie ließen es in ihren Gesprächen nicht an Seitenhieben auf diesen neugebackenen Büßer fehlen, aber sie konnten ihn in seiner neuen Rolle nicht irre machen.«
SADIST UND FROMME HELENE
Diese Zurschaustellung seiner neu gefundenen Religiosität erinnert mich immer an Wilhelm Buschs »Fromme Helene« und macht mich schaudern.
Es folgt Hasenclevers vernichtendes »Lippen«-Bekenntnis: »Er war eigentlich ein gutaussehender Mensch. Er hatte ein kluges und man könnte beinahe sagen, feines Gesicht mit einem sinnlichen, sehr weichen Mund, der ahnen ließ, dass er vielleicht mehr konnte als trutzige Phrasen von sich geben. Tatsächlich war Frank ein musischer Mensch. Zugleich aber war er, was man dem Mund auch ansah, ein Sadist. In der Weichheit dieses Mundes lag eine deutliche Grausamkeit, die er auch in Polen ungehemmt walten ließ.«
Die »Time« schrieb unter das Gruppenfoto der in Mondorf Inhaftierten: This remarkable group portrait, which looks at first glance like members of a select club, in fact just that: these are most of Nazi Germany’s leaders. Neurotic Göring, undergoing a morphine cure, had lost 30 of his 270 Ibs., but looked fairly well when he took his front-&-center seat. Jewbaiter Streicher had wept and beaten his breast with shame because a U.S. Jewish sergeant gave him a gift of cocoa and crackers. Butcher Frank (of Poland) had arrived hysterical and clad only in lace panties.
Demnach war der »Schlächter von Polen« in Unterhosen in Mondorf eingeliefert worden. Er, der immer tipptopp gekleidet war, seine 110 Uniformen verehrte – und sich selbst in ihnen –, wankt oder wandelt in Unterhosen durch die Gänge des zum Gefängnis umgepolten luxemburgischen Palasthotels! Vielleicht ließ Gefängnisdirektor Burton C. Andrus ihn auch bewusst zunächst ohne Hosen, um die Verachtung der Amerikaner für den Butcher of Poland deutlich zu machen, der schon weit vor Kriegsende von der »New York Times« auf ihrer Kriegsverbrecherliste als Nummer 1 geführt worden war.
Nun in Nürnberg, schreibt Hans Frank weiter, sind wir ein wesentlich reduzierter Kreis unter erschwerten äußeren Lebensbedingungen. Der Lebensstil ist der eines Gefängnisses mit den durch die besondere Art der Inhaftierten und ihrer militärischen Verwahrer gegebenen Abweichungen.
Neben meinem Florian-Platz habe ich noch drei Bücher in treuer Gefolgschaft: die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers wurde vermittelt durch die Kriegsgefangenenhilfe; dann die »Einführung in die Philosophie« von Dr. Max Apel und endlich »Die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach«, der Frau Johann Sebastians, ein reizend liebes Buch der Engländerin Esther Meynell, die auch den Zensor vermochte, in das Buch ein liebesrotes Mal zu stempeln, dass in seinem Wortlaut ›passed by examiner‹ die Musikalität unserer modernen Militärs allerorten bestätigt.
Bitternis klingt durch den Text: Wie kann man so hochgestellte Persönlichkeiten eines Reiches so behandeln!
Ironie folgt: Mein Bettgestell aus Eisen hat eine Matratze, und 5 Wolldecken wurden mir in aller Fürsorge daraufgelegt. Ein Tisch und ein Stuhl vervollständigen die Einrichtung, die ich, wenn ich als bayrischer Justizminister, dem alle Gefängnisse des Landes unterstanden in den Jahren 1933 – 38, hätte es ahnen können, dass sie mir einmal dienen würde, wesentlich komfortabler gestaltet hätte.
Dass er nur durch die undemokratische Regierungsübernahme seiner Nazis am 10. März 1933 Bayerischer Justizminister geworden war, ist für ihn nicht erinnerungswürdig. Auch nicht, dass er anstatt die Zellen aufzumöbeln, als eine seiner ersten Amtshandlungen jüdischen Anwälten verbot, weiterhin vor Gericht aufzutreten.
Über drei Monate bin ich nun in der Gefangenschaft. Nicht mehr Herr meines Lebens, sondern Sache der Planung anderer.