Faulfleisch. Vincent Voss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vincent Voss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966291040
Скачать книгу
sagen können. Letztlich wollte ich einen griechisch klingenden Namen, der etwas hermachte, und ich bildete mir ein, es geschickter als Kronos anzustellen. Viel wichtiger war die von mir empfundene Gottähnlichkeit durch mein Handeln. Ich hatte wahren Anteil an dem Tod, noch mehr, ich entriss ihm etwas und führte es in das Leben zurück. Nicht, dass ich ernsthaft glaubte, ich hätte die positiven Eigenschaften der Verspeisten angenommen, das war es nicht. Ich hatte eher das Gefühl, dem Tod dahin zu folgen, wo ihn kein Mensch hätte sehen dürfen. Mit jedem Mal stieg meine Angst, aber auch mein Verlangen.

      In Thanatos sozialem Schatten erkundete ich die Gemeinschaft der »Menschenfleischesser« und ich war erstaunt. Fühlte ich mich mit meiner Neigung zuvor allein in vertrauter Zweisamkeit, sah ich unter jedem Stein, den ich umdrehte einen Gleichgesinnten. Busfahrer, Studentinnen, Krankenpfleger, Ärztinnen, Juristen, Arbeitslose. Viele von ihnen waren überaus redselig, zu redselig für meinen Geschmack, aber einige von ihnen empfand ich durchaus als charmant mit Tiefgang. Jedoch konnte niemand mit meiner organisierten Professionalität konkurrieren, allein aus diesem Grunde hielt ich mich lieber bescheiden zurück. Niemand sollte wissen, wie viele Leichen ich im Keller hatte.

image

      Es akkumuliert sich. Es kann sich kaum noch ausdehnen. Es entsteht Druck. Der lautlose Schrei schwillt an und entfesselt infernalische Energien. Türme, Spiralen, Strudel, sämtliche geometrische Formen entstehen und zerbersten. Die Kräfte schmiegen sich an den Grenzen, zerfließen dort unter Druck, werden komprimiert und wieder komprimiert.

image

      Ich stehe auf einer weiten Ebene aus durchsichtigem Eis und unter mir ist dunkles Wasser, dessen Tiefe in mir Angst erzeugt. Es gibt keinen Bruch im Horizont. Weites schwarzes Eis. Ich gehe ein paar Schritte. Wenn nichts ist, spürt man sich selbst. Ich kontrolliere meine Vitalfunktionen. Atmung: gespannt, aber normal, Temperatur: normal.

      Ich gehe noch ein paar Schritte und achte auf meinen Gleichgewichtssinn: normal, Gehör: alles in Ordnung, ich höre meine Schritte. Bewegungen unter mir erschrecken mich. Da war etwas! Natürlicher Impuls. Noch mal den Horizont nach etwas Sicherem absuchen. Eine weitere Bewegung. Unter dem Eis wird ein menschlicher Körper an die Unterseite des Eises getrieben. Den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.

      Ein Mann, nackt, blass. Das Eis und das Wasser brechen nicht das Licht. Ich kann ihn wie durch Glas sehen. Noch ein Körper, noch einer und noch einer. Überall tauchen gequälte Leiber auf und winden sich unter der Eisoberfläche. Sie bedecken bald die gesamte Unterseite und drängen sich an die freien Plätze. Dem Mann unter meinen Füssen treten die Augen hervor, er wird von anderen Körpern gedrückt, er muss seinen Kopf neigen und sein Gesicht wird an die Unterfläche gequetscht. Er versucht sich in eine Haltung zu bringen, die dem Druck standhalten kann, aber ihm bleibt keine Zeit, sein rechter Arm wird nach hinten gedrückt. Anderen ergeht es ähnlich. Überall. Blut ergießt sich aus seinem Mund und sein Kopf deformiert sich pathologisch. Blut.

      Ich wache auf, setze mich in die Küche und mache mir eine kräftige Brühe. Danach geht es mir besser und ich kann zur Arbeit gehen. Es ist gut, wenn man zu Fuß geht. Bewegung schadet nicht.

image

      Später bearbeite ich freiwillig die in ihrer Anzahl stetig steigenden Gewaltopfer aus den Hamburger Prekariatszonen, wie zum Beispiel Hamburg Mümmelmannsberg. Die Kids waren wirklich krank, und kaum ein Verstorbener kam unversehrt zu mir, so dass es ein Leichtes war, einen Teil mitzunehmen.

      Meine Verdauung litt anfangs ein wenig unter der Ernährungsumstellung, denn der Konsum von zu viel Menschenfleisch kann zu chronischer Darmträgheit führen. Durch die Aufnahme von Rohkost als Ergänzung in meinem Speiseplan, glich ich die Unbekömmlichkeit aus.

      Thanatos litt unter ähnlichen Problemen. Mittlerweile kommunizierten wir nur noch chiffriert und unsere Texte waren gelegentlich komisch prosaisch. Essen nannten wir tanzen, ein Ohr war ein Blumenkohl. Thanatos bezog seine Nahrung aus seinem anwachsendem Klientenstamm und seiner Szene aus Selbstverstümmlern. Sexuelle Begierden spielten in seinem Milieu gewiss auch eine große Rolle, seine ekstatischen Berichte über den Verzehr eines männlichen Hoden konnte ich emotional nicht annehmen. Für mich war das krank, denn es ging um etwas ganz anderes bei dem Verzehr von Menschenfleisch.

image

      In der Vorweihnachtszeit gab es eine Massenkarambolage auf der A7. Für Hamburger Verhältnisse war es seit Jahren der größte Unfall: Vierundzwanzig Tote und hundertachtundzwanzig Verletzte. Ich arbeitete an meinem Limit, konnte mich aber mit meinem Weihnachtsdrogenvorrat über Wasser halten. Die enormen Strapazen führten zu einem unangenehmen Kontrollverlust. In einer Mittwochnacht war ich erneut damit beschäftigt, Gewebe, Gliedmaßen, Zähne, etc. zu nummerieren und zuzuordnen. Aufwendige Puzzlearbeit, die ein hohes Maß an Konzentration erforderte.

      Der Geruch von frischem Fleisch und Blut hatte mittlerweile eine vitalisierende Wirkung auf mich, so dass ich mich auf den Punkt genau auf mein Handeln fokussieren konnte. Akkurat trennte ich aufgrund von verschiedenen Kleidungsfasern nicht zusammengehöriges Gewebe voneinander, als ich aus dem Berg von Arbeit einen tätowierten Ziegenkopf mit gelben Augen erspähte. Auf dem abgerissenen Unterarm eines jungen Mannes. Oberhalb des Ellenbogens, kleiner Finger, Ring- und Mittelfinger abgerissen.

      Ich sah mir den Unterarm genauer an, sog den Geruch am Stumpf ein und riss ein zeige- und mittelfingerbreites großes Stück Fleisch mit den Zähnen heraus. Schlang es herunter und biss erneut in den Arm.

image

      Ich denke, an diesem Punkt habe ich die Kontrolle verloren und wandelte bis zur Abarbeitung meines Klientels auf gefährlichen Pfaden. Ich nahm zu viel mit und konnte gar nicht alles verarbeiten, geschweige denn kühlen.

      Kurz vor Weihnachten beschwerte sich meine Vermieterin wegen des unangenehmen Geruchs bei mir. Ich konnte sie leider nicht hinein bitten, da sich allerlei Leichenteile in der Wohnung in eilig gekauften, bunten Plastikwannen von Real stapelten und vor sich hin verwesten. Über Weihnachten erledigte ich einen Großteil der Schreibarbeit, fuhr meinen Drogenkonsum gegen Null runter und entsorgte alles Verräterische. Zwischen den Feiertagen suchte ich nach einer Immobilie auf dem Land. Im nordöstlichen Umland Hamburgs wurde ich in Wilstedt fündig. Ein ehemaliger Wirtschaftshof, der nur über einen Landwirtschaftsweg zu erreichen war. Keine direkten Nachbarn, ein großer Garten, viele Arbeitsgebäude. Im März zog ich ein.

image

      Das Eis vibriert. Der Kopf des Mannes wird wie eine Traube zerdrückt. Gehirnmasse, Knochenstücke, Blut und dunkelblaues Muskelfleisch verschmieren die gläserne Fläche. Stille. Großer Druck. Überall reißen die gequetschten Körper auf und ergießen sich unterhalb des Eises, wie zerplatzte Daunenfederkissen. Ich blute.

      Woher? Keine Ahnung. Blut quillt aus mir. Ich schmecke es. Das Eis surrt. Kronos, schreie ich. Ein Geräusch. Es erinnert mich an meine Kindheit. Ein Schlittschuhfahrer fährt über einen See und das Eis flirrt. Die riesige Wasserfläche trägt den Ton und multipliziert ihn. Es splittert.

      Ich wache auf und fahre den Rechner hoch. Ich suche nach Hunden. Manchmal komme ich mir in der Einsamkeit nicht so sicher vor. Crab, mein Suchprogramm empfiehlt zwei junge Schäferhunde aus dem Tierheim Neumünster.

image

      Januar. Thanatos und ich hatten beschlossen, uns einmal bei mir zu treffen. Wir hatten keinen Termin vereinbart. Pan und Apollon, so habe ich die beiden Schäferhunde genannt, waren zu echten Gefährten geworden. Sie bewachten Haus und Hof, während ich weg war und gaben mir Sicherheit, wenn ich im Arbeitsschuppen sang und tanzte. Mittlerweile konnte ich gut größere Mengen auf einmal verarbeiten, nur es ergab sich nichts. Ich betrieb viel Sport und hatte mit meinen zweiundvierzig Jahren das Gefühl,