»Das ist der alte Hof vom König. Aber der ist schon tot. Ein paar Jahre wohl schon. Da wohnen sonst noch die alten Schröters im Moor, aber das war es dann auch schon.«
Liam nickte.
»Danke. Dann kann man da ja hin, wenn da niemand mehr lebt.« Liam log und fühlte sich unwohl. Warum hatte er nicht direkt gefragt? Er wollte umdrehen.
»Nein, warte, da ist doch einer eingezogen. Der hat das sogar gekauft. Ein Anwalt, glaube ich, oder ein Arzt. Dirk meinte letztens, dass er da zwei Schäferhunde gesehen hatte, also würde ich da eher aufpassen, wenn du mit deinen Lütten da unterwegs bist. Ein Weg führte dort früher mal hin, als der König noch Vieh hatte. Als er alt wurde und seine Kinder in die Stadt zogen, da kümmerte sich niemand mehr um den Weg.« Markus nickte zur Bestätigung, dass er nichts mehr zu sagen hatte. Liam nickte auch, brachte den Müll weg und legte sich wieder auf sein Sofa.
Am nächsten Vormittag kaufte er sich eine warme Skijacke. Später fuhr er mit dem Rad den Wanderweg bis zur Wanderkarte und zeichnete sie ab. Mittags telefonierte er mit Sandra. Jack hatte sich erkältet, Lina ging es soweit gut, Sandra würde übermorgen raus kommen. Liam registrierte, dass er abgelenkt war. Er vergaß dadurch die bedrückende Stille. Allerdings kam er dadurch nicht zum Arbeiten und einen Auftrag schob er Deadline um Deadline auf. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Auftrag platzte. Letztlich gingen ihm der nackte, gefesselte Mann und das Verhalten des anderen nicht aus dem Kopf. Er hatte das Gefühl, der andere Mann hatte etwas zu verbergen gehabt. Da aber sein Gefühl nur auf Sand gebaut war, konnte er nichts Konkretes unternehmen. Die Polizei einschalten? Lächerlich. Über das Internet herausfinden, wer der Käufer des alten Könighofes war, um dann zu recherchieren? Das hatte er halbherzig unternommen. Allerdings ohne Ergebnis aus Bequemlichkeit wieder eingestellt.
Heute Nachmittag wollte er sich dem Gehöft von der Straßenseite aus nähern. Bis dahin wartete er in der Stille.
Er stieg ins Auto und fuhr den gesperrten Naturwanderweg durch das Moor über die Steinbrücke und bog dann nicht auf den Feldweg zur B432 ab, sondern nach rechts Richtung Wilstedt. Das konnte er der Karte entnehmen, aber er konnte es nicht mit seinem Orientierungssinn in Einklang bringen. Dort sollte Wilstedt liegen? Nach einigen hundert Metern erreichte er eine kleine Einbuchtung und parkte seinen Wagen. Es war kalt und feucht. Der Geruch von Schnee lag in der Luft, aber auf den Bäumen war das Eis weggetaut und diese Art von Kälte kroch ihm schnell in die Glieder. Er sah auf dem Handy nach der Uhrzeit und stellte fest, dass es in einer Stunde dunkel werden würde. Er überlegte, ob er eine Taschenlampe mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen.
Er ging die asphaltierte Straße Richtung Wilstedt. Links und rechts der Straße standen gestutzte Weiden, deren Triebe an den Einschnitten gerade nach oben sprossen. Blattlos sahen einige von ihnen aus wie belebte, grimmige Wächter, die die Felder hinter sich verteidigen mussten. Acker, Knick, Acker, Knick, reihte es sich in jede Richtung des Horizonts auf. An der westlichen Seite des Moores war er an drei Häusern vorbei gekommen und er fragte sich, wie die Menschen mitten im Nichts leben würden. Hatten sie Kinder? Erzählten sie ihnen Gute-Nacht-Geschichten von Moorgeistern und Irrlichtern?
Würde er ins Auto steigen und zurückfahren, würde er auf eine große Straße kommen, die direkt nach Hamburg führte. Und keine dreißig Kilometer Luftlinie von Hamburg entfernt, fühlte er sich mehrere Jahrzehnte zurückversetzt.
Die Straße beschrieb einen rechten Winkel und dahinter sah er den alten Königshof auf der rechten Seite der Straße und ein ebenfalls rotgeklinkertes Einfamilienhaus auf der gegenüberliegenden Seite. Das musste das Haus der Schröters sein. Den Königshof konnte er nicht gut erkennen, da vor dem Wohnhaus auf einer Wiese verwilderte Apfel- und Birnenbäume standen, die ihm die Sicht nahmen. Die Schröters hatten eine Vorliebe für weiße Gardinen vor den Fenstern. Der Garten war spärlich bewachsen und akkurat gepflegt. Kein Laub lag auf dem Rasenstück und kein Unkraut verunzierte die beiden braunen Mutterbodenstreifen, die den Steinweg bis zur Tür flankierten. Ein paar Schritte später konnte er auf die Hofeinfahrt des Königshofes sehen.
Er blieb stehen, reckte und dehnte sich so, wie er sich typische Spaziergänger sich reckend und dehnend vorstellte. Der dunkelblaue Volvo stand auf dem Hof. Kein Pan und kein Apollon. Und auch kein Stöhnen. Der Garten und die Wirtschaftsgebäude neben dem Kuhstall waren verwildert. Der Hof war vor dem Wohngebäude bepflastert, aber durch einige Steine hatte sich das Unkraut durchgekämpft und die Steine herausgehoben.
Liam war unschlüssig. Was genau wollte er hier? Oder was erwartete er, hier anzutreffen? Er dehnte sich ein letztes Mal, drehte sich um und ihm stockte der Atem. An einem Fenster des Wohngebäudes hatte er eine Hand gesehen. Sie hatte sich an die Scheibe gepresst und war hinter der Gardine verschwunden. An der Hand hatte Blut geklebt! Glaubte er zumindest. Genau hatte er es nicht erkennen können. Sofort stellte er das vermeintlich Gesehene in Frage, bis es ihm lächerlich schien. Sein Herz pochte. Er spähte zu dem Fenster und versuchte, Blutspuren zu erkennen, aber die untergehende Sonne reflektierte das Licht zu stark und tauchte die Scheibe in gleißendes Orange. Er ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Die Scheibe war beschlagen, vielleicht sogar beschmiert. Am einfachsten wäre es, wenn er dorthin gehen würde, aber er traute sich nicht. Er neigte den Kopf zur Seite und fühlte sich in seiner Wahrnehmung bestätigt. Schmierig. Aber ob es Blut war, konnte er nicht sicher sagen. Vielleicht hatte auch das Licht seiner Wahrnehmung einen Streich gespielt. Aber es war eine Hand gewesen.
Er beugte sich noch tiefer, sodass er fast schon auf der Straße lag. Etwas trat ihn in die Sohle. Erschrocken schoss er in die Höhe und holte zum Schlag aus.
»So sieht Sport aber nich’ aus, Kumpel, doh. Was machste denn da?«. Vor ihm stand Clemens Vater. Zum ersten Mal humorlos. Und hinter ihm stand Clemens und beobachtete ihn neugierig an den Beinen seines Vaters vorbei. Liam wurde durch das schnelle Hochkommen schwindelig. Er rieb sich mit der linken Hand die Schläfe und taumelte leicht. »Ich gehe hier häufiger Spazieren und dann habe ich eine Hand gesehen. Dort und …«, er riss sich zusammen, das Schwindelgefühl ließ nach. Er suchte Blickkontakt zu Hübi. »Ja, und dann war ich mir nicht mehr sicher. Ich wusste gar nicht, dass da jemand wohnt«, deutete er auf das Haus.
»Mmh, ja. War lange der Hof vom König. Bis dann so ’n Snob aus der Stadt das Ganze hier gekauft hat.« Hübi sprach lauter als sonst.
»Der Herr Gerichtsmediziner hat sich hier niedergelassen. Und weil der Herr Gerichtsmediziner Schiss hat, hier alleine, hat er sich zwei Schäferhunde geholt.« Hübi hatte den Kopf zum Königshof gewendet. Dem Hausbesitzer galt das Gesagte. Liam nickte.
»Du stehst nicht so auf Zugezogene, was?«, wollte Liam wissen. Hübi packte ihn an der Jacke und zog ihn zu sich ran.
»Das stimmt überhaupt nich, aber weissu was? Solche Gesellen wie den da, ne, immer in der Klinik, dann wieder hier und so ’n Gejammer hören, komische Freunde und sowas, ne. Das is’ verdächtig, weissu. Das is ’n Stubenhocker!« Hübi spuckte aus und schob Liam sanft wieder von sich.
»Aber du«, er klopfte ihm auf die Schulter und reckte anerkennend den Kopf nach oben »bist ja gar keiner, sondern bist ja auch hier draußen unterwegs, ne.« Er näherte sich Liam drohend.
»Oder wolltest du etwa deinen Freund, die Ärzteschwuchtel besuchen?« Hübi schaute Liam an und Liam streckte sich.
»Sag mal, spinnst du! Du kannst mich doch nicht einfach so …« Liam fehlten die Worte, er drehte sich weg und ging.
»Na also, bist also kein Stubenhocker wie unser Herr Gerichtsmediziner hier!«, rief ihm Hübi hinterher. »Kein so ’n Schwanzlutscher!«
Liam konnte sich nun das schüchterne Wesen von Clemens erklären, den verträumten Blick, das Weggucken, wenn er gefragt wurde. Wahrscheinlich waren das alles Tischregeln bei Clemens und Hübi im Haus, die Mutter hatte er noch nicht kennen lernen dürfen.
Am Auto warf er seine Skijacke in den Kofferraum, setzte sich mit einem Seufzer auf den Fahrersitz und atmete durch. Hübis Erscheinen hatte ihn vom Wesentlichen abgelenkt, der blutigen Hand am Fenster. Zweifel regten sich in ihm. Wenn er sich bei der Polizei