Liam fiel Blut im weißen Fell des Katers auf. Das Kinn und auch die nadelspitzen Zähne zeigten Restspuren einer blutigen Mahlzeit. Liam lutschte an seinem Finger, ging zum Medizinschrank und desinfizierte die Wunde. Er bestrich sie mit Jodsalbe und klebte ein Pflaster darauf. Währenddessen überlegte er, wo so ein Kater vom Land sich seine Mahlzeiten besorgte und keiner der Gedanken war appetitlich zu nennen.
Kindergarten
12:00 Uhr. Liam fuhr den Rechner runter und sortierte seine Schmierzettel zu zwei Stapeln. Er hatte trotz der Stille arbeiten können, allerdings plagte ihn jetzt eine schmerzende Melancholie. Warum hatte er den Streit so eskalieren lassen? Andererseits sah er sich nicht in der Rolle, den ersten Schritt der Versöhnung zu gehen. In diesem Dilemma steckte er häufig. Die Ursache des Streits lag in Sandras Verhalten ihm gegenüber, aber er vermochte es nicht, es ihr zu erklären. Sandra wies alle Schuld von sich und brachte ihn in die Position, sie mit unfairen Äußerungen sticheln zu wollen, um ihre Arroganz zu brechen. Dabei brachte sie ihn mit ihrer unterkühlten Art und er sich dadurch, dass er es ihr nicht erklären konnte selbst dermaßen in Rage, dass er nicht aufhören konnte. Es tat ihm Leid und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, alle schlagkräftigen und berechtigten Argumente durch seine aufbrausende Art vernichtet zu haben. Wie immer würde er sie irgendwann anrufen und um Verzeihung bitten. Ihr täte es auch Leid, würde sie dann sagen, aber an den entscheidenden Punkten ließe sich aus seiner Sicht nicht mehr arbeiten.
Er zog sich die Schuhe und seine Jacke an, nahm den Autoschlüssel vom Klemmbrett beim Telefon, schloss die Tür hinter sich zu und verharrte. Er hörte die blattlosen Birkenzweige der drei auf dem Wall stehenden Birken leise knistern, spürte die Kälte in seinem Gesicht und sonst: Nichts.
Er wohnte auf dem Hofgrundstück des Bürgermeisters, der eine historische Bäckerei zu vier Wohneinheiten umgebaut hatte. Von seiner kopfsteinbepflasterten Hofeinfahrt konnte er bis auf die Einmündung einer Dorfhauptstraße sehen. Liam stand oft mit seinem Sohn am Küchenfenster und zählte vorbeifahrende Autos. Heute wäre ihnen langweilig geworden. Er schloss den Wagen auf, setzte sich und nach dem Starten des Motors schob er eine CD der Red Hot Chili Peppers ein und drehte lauter.
Ein Lied später stieg er auf dem Gemeindeparkplatz für Kindergarten- und Turnhallenbesucher aus seinem Wagen, schmiss die Tür zu und freute sich auf seinen Sohn. Ein Wagen fuhr ab, einer kam nach ihm und die Mutter von Franja grüßte ihn aus ihrem Auto bei der Ankunft. Er überlegte, ob sie gemeinsam zum Kindergarten gehen sollten, aber so nah stand er ihr nicht. Das Leben hatte ihn wieder. Er ärgerte sich zum wiederholten Mal über einen großen Geländewagen, der auf dem Parkplatz für Rettungswagen stand. Je nach Laune untermalte er seine Wut mit imaginären Vergeltungsaktionen, in denen er die Besitzer schmerzlich abstrafte. Dennoch überwog die Freude auf seinen Sohn, der bestimmt mit seiner Gruppe auf dem Spielplatz spielen würde. Er nahm den längeren Weg am Bürgerhaus vorbei. Die Krippenkinder spielten heute nicht draußen. Der im Schatten liegende Krippengarten lag verwaist hinter der noch nicht grünenden Buchsbaumhecke. Vom Platz zwischen dem Kindergarten und der Sporthalle hörte er Kinder und das Geräusch von schnell fahrenden Gummireifen auf Betonplatten. Nachdem er um die Ecke des Kindergartens kam, sah er die Betreuerinnen der Pinguingruppe, in der auch sein Sohn Jack, oder richtig Jonathan, betreut wurde. Sie trugen ihre Winterkleidung und Frau Kallenberg sah in ihrem Skidress und mit ihrer gebräunten Haut unverschämt gut aus. Er begrüßte sie und Frau Rankwitz deutete mit einem Nicken zum Beachvolleyballplatz, wo er aus einem Kinderknäuel Jack in seiner dunkelblauen Buddelhose erkennen konnte. Jack stand abseits und beobachtete die anderen beim Spielen. Liam seufzte. Es tat ihm weh, Jack im Kindergarten leiden zu sehen, aber Jack machte es ihnen auch nicht leicht. Er brauchte lange, um sich irgendwo wohl zu fühlen und im Kindergarten war er seit einem halben Jahr noch nicht richtig angekommen.
»Wie war es heute?«, fragte er Frau Kallenberg und stellte sich neben sie. Jack hatte ihn noch nicht gesehen, sonst wäre er auf Liam zugestürzt.
»Gut.« Sie nickte bestätigend. »Er hat heute mit den anderen gefrühstückt, wollte auch raus gehen, beim Stuhlkreis hat er sich etwas zurück gehalten.« Während sie mit ihm sprach, beobachtete sie Jack und überging seine von den anderen Kindern ausgegrenzte Position. Sie suchte den Blickkontakt zu Liam.
»Und er hat heute etwas farbenfroher gemalt, Grün und Gelb kamen in seinem Bild vor.« Sie lächelte ihn an, weil sie Jack mochte. Jack malte nicht gerne und wenn er malte, bevorzugte er dunkle Farben oder Schwarz. Liam fand daran nichts Ungewöhnliches, Schwarz war cool. Aber er besaß ein psychologisches Laienwissen, das ihm sagte, Kinder, die bevorzugt schwarze Bilder malten, hatten eine schlechte Kindheit gehabt und wurden womöglich geschlagen oder misshandelt. Glücklicherweise teilte Frau Kallenberg nicht diese Auffassung (oder sie zeigte es ihm nicht) und sie nahm Jacks Marotte mit Humor. Liam schüttelte verliebt mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf.
»Von mir hat er es nicht, meine Lieblingsfarbe ist Rosa«, scherzte er und winkte Jack hinüber, der ihn erkannte und mit den größten Schritten, die eine Gummibuddelhose zuließ, auf ihn zustürmte. Liam lachte. »Irgendwas vergessen heute?«, fragte Liam.
»Nee, war auch alles gut«, antwortete sie und beobachtete die Roller fahrenden Kinder. »Seit wann nennt er Sie eigentlich Liam?«, wunderte sie sich.
»Das hat er nach einer Harz-Reise auf der Rückreise beschlossen. Einfach so«, erklärte er. Frau Kallenbach schmunzelte.
»Dann bis morgen«, verabschiedete er sich. Jack stand atemlos neben ihm.
»Liam, weißt du was?«, strahlte er ihn an und forderte seine gesamte Aufmerksamkeit, »Lucie hat gesagt, ihr Lieblingstier ist eine Frikadelle. Dabei sind das doch keine Tiere, oder Liam?« Liam grinste, wuschelte seinem Sohn durch das Haar, holte mit ihm seinen Rucksack und ging, sich mit Jack über Frikadellen unterhaltend, zum Auto.
Bei den Mülleimern um die Ecke biegend sah er den großen, breiten Schatten von Cles oder Clemens Vater und hörte eine gepfiffene Melodie. Verdammt, dachte er, denn Cles Vater oder auch Hübi, was er jedem anbot, Liam aber kategorisch ablehnte, war ihm unangenehm. Hübi sah Liam, grinste und hatte ihn mit zwei Schritten erreicht.
»Na, Jonathans Vater!«, rief er ihm aus nächster Nähe zu und haute Liam auf seine linke Schulter. Jack versteckte sich hinter Liam.
»Hallo, Clemens Vater«, stieg Liam hilflos ein und vermied es, das kräftige Abklopfen bei diesem, zwei Köpfe größeren und doppelt so breiten, Mann zu einem Ritual werden zu lassen, indem er auch das Klopfen anfing. In einer Übersprunghandlung blickte er entschuldigend auf sein rechtes Handgelenk, an dem sich keine Uhr befand.
»He, nee wart’ mal!« Clemens Vater versperrte ihm den Weg.
»Deine Schuhe, ne sind das eigentlich Schuhe für Stubenhocker?«, wollte Clemens Vater grinsend von ihm wissen. Irritiert besah Liam seine Chucks, der rechte sah mitgenommen aus, in der Hacke war ein Loch. Wieso Chucks aber Stubenhockerschuhe sein sollten, wusste er nicht. »Wieso?«, entglitt es ihm unverzeihlich devot.
»Nur so«, grinste ihn Clemens Vater weiter an und gewährte Liam einen Blick auf das Innenfutter seiner Bomberjacke.
»Weil du ein Stubenhocker bist!« Clemens Vater haute ihm noch mal auf die Schulter und gab ihm den Weg mit einem Augenzwinkern frei.
Jack kam hinter Liams Beinen hervor und Liam schüttelte über seine eigene Hilflosigkeit den Kopf. Es gab Menschen in seinem Leben, mit denen konnte er nichts anfangen. Er mochte sie nicht, er mied sie, aber sie begegneten ihm immer wieder. Er fragte sich, ob er auch einen bestimmten Hasstypen für Menschen darstellte und sie in eine ähnliche Hilflosigkeit