»Ja«, bestätigte Theresa. »Ich habe den Film sogar gesehen. Mir wurde ganz mulmig. Die Ermordung der Gefangenen durch ein staatliches Geheimkommando wurde sehr realistisch dargestellt, als ob es wirklich so geschehen sei. Ich fand das unverantwortlich, weil jüngere Zuschauer den Plot für bare Münze nahmen. Die haben doch keine Ahnung von den Geschehnissen damals.«
»Was für ein dummes Zeug. Dass das überhaupt für möglich gehalten wird. Wir sind eine Demokratie, mit vielen Fehlern, aber sie ist das Beste, was wir je hatten. Nie wieder Radikale, bitte: keine linken und keine rechten Fanatiker. Das sagt eine, die von beiden Varianten eine Kostprobe erhielt. Erst die Nazis und dann die Kommunisten. Wir waren vier Jahre an der Botschaft in Moskau. Herzliche Grüße an die Bolschewiken, aber, merci, nein danke!«
Sie schmauchte wieder – ein tiefer Zug. Danach kam die unausweichliche Frage. »Warum willst du das alles wissen? Du kommst nicht weiter mit dem Toten am Stadtwald – stimmt’s?«
Im Alter hatte Clarissa nichts von ihrer Scharfsinnigkeit eingebüßt.
»Musst du ja nicht unbedingt weitererzählen – aber, ja, du hast recht. Wir stecken fest. Wir kennen nicht einmal die Identität des Opfers.«
»Rache?«
»Kann sein. Der Ort spricht dafür – wenn es kein Zufall ist.« Theresa überlegte: »Nein, an Zufall glaube ich nicht. Ein Mann wird erschossen, genau an der Stelle, an der einst der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt wurde.«
»Schau mal bei den Ossis – die haben die RAF-Täter reihenweise beherbergt«, erinnerte sich Clarissa.
»Ein Gespräch mit dir lohnt sich immer«, lobte Theresa und wünschte der Tante einen angenehmen Tag.
»DDR«, sagte sie zum Kollegen Bär. Der schaute ratlos.
»Wir müssen an die Öffentlichkeit, auch im Osten.« Sie erklärte ihm die Gründe.
Bär nickte.
Blick im Regen nach Köln
Der Regen hörte nicht auf. Nie mehr, dachte Kommissar Michael Fett. Seit Ende Januar regnete es täglich. Der Himmel war grau. 50 Arten von Grau. Tiefes Grau, dunkles Grau, helles Grau. Grau mit Streifen und ohne. Graue Wolkengebirge zogen von Westen heran. Man sollte in Aktien von Regenschirmfabrikanten investieren, dachte Fett.
In Aachen regnete es oft, aber wenig. Den Spruch des Meteorologen von der RWTH Aachen kannte sogar der alte Inhaber des Schuhgeschäftes am Theaterplatz. Fett kaufte dort seine Schuhe mit Gummisohle. Rutschfest. Der Inhaber hinkte aus dem Hintergrund des Geschäftes in den Verkaufsraum. Beredt erklärte er den Stammkundinnen, die um einen Preisnachlass baten, dass er nichts an den Schuhen verdiene, ja quasi Geld drauflege. Im Grunde sei er ein selbstloser Diener am Fuße der Menschheit, ein armer Geschäftsmann, der gerade eben sein täglich Brot erwirtschafte. Als die Kundin erneut nach einem Rabatt fragte, konterte er mit seiner Standardantwort im Aachener Singsang: »Oes, es dat nett ejen Stadt en Marokko. Janz jewiss.« Das Thema erledigte sich damit von selbst.
Die aparte Verkäuferin, ob sie quasi ohne Lohn ihren Dienst verrichtete, blieb unbekannt, half Fett in den Schuh, lobte seinen Geschmack und bemerkte, dass der rechte Fuß größer sei als der linke. Zum Glück nicht umgekehrt, sagte Fett. Sonst sei er ja der Teufel aus Aachen. König Hinkefuß mit Schwefelgeruch. Er tätigte den Kaufakt ohne Anfrage um einen Preisnachlass. Er hatte alle Argumente dagegen mitgehört.
Es regnete in einem fort. Die neuen Schuhe trug er in einer Tüte, zehn Cent wegen der Umwelt. Fast wäre er am Dom zwischen den massiven Steinpollern ausgerutscht. Mitten auf den AIDS-Toten, ging ihm durch den Kopf. Nicht auf Gräbern, sondern auf Namen. In die Pflastersteine waren die Namen von AIDS-Toten eingemeißelt. Wieso, fragte er sich. Warum nicht die Namen von Bergleuten, die an Staublunge elend gestorben waren? Oder von krebskranken Kindern? Ungleiche Tote? War der AIDS-Tod denkmalgeschützt? Er stand im Regen und schaute auf die Namen in den Steinen. Er ärgerte sich über diese Klassifizierung des Todes. Junge Kollegen waren im Einsatz gestorben. Nicht mal im Präsidium eine Gedenkplakette. Aber Stolpersteine für AIDS-Tote. Was war so ehrenvoll an diesem Tod, dass die Opfer nun in Stein gemeißelt hier verewigt wurden? Sein Unverständnis wuchs, der Regen prasselte heftiger.
Mit nassen Füßen machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung am Templergraben. Meditatives Schuhputzen stand auf dem Programm. Die Anleitungen zum richtigen Putzen füllten ganze Webseiten. Schuhfetischisten tummelten sich darauf. Er betrat den Hausflur. Frau Kleinjohann, seine alte Nachbarin, hatte er seit Tagen nicht mehr gesehen. Er klingelte bei ihr.
»Alles in Ordnung, Frau Kleinjohann? Habe Sie lange nicht gesehen.«
»Ach, Herr Fett. Danke. Bei dem Wetter kann doch kein Mensch vor die Tür. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nett von Ihnen. Muss gleich wieder raus. Danke. Ein anderes Mal.«
Sie lebte. Alleine sterben die alten Menschen. Frau Kleinjohann hatte keine Angehörigen. Wer würde sie begraben, sie, die Krieg und Wiederaufbau mitgemacht hatte. Arbeiterin in der Nadelfabrik. Kein Gedenkstein am Dom. Tod durch Altersschwäche, dafür gab es kein Ehrenmal.
Freitagnachmittag. Schuhe gekauft. Cappuccino im Café zum Mohren. Heute Abend »Three Billboards outside Ebbing, Missouri« mit Iska im Programmkino. Im Grunde alles in Ordnung. Fast.
Vorbereitung auf Kurdendemo in Köln. SEK Bonn in Bereitschaft. Schwere Ausschreitungen möglich. Die Absage von Iska, Leiterin des SEK Bonn, kam wie so oft, wenn sie verabredet waren. Die Zahl der Überstunden wuchs ins Unendliche. Reichsbürger, Linksautonome, sogenannte Aktivisten in Hambach, kriminelle Flüchtlinge, darunter Folterknechte verschiedener Regime. Ihm war die Lust vergangen. Spaghetti Bolo, ein Krimi von Takis Würger und danach Aspekte im ZDF. Sein Abendprogramm stand. Oder doch ein rascher Kontrollgang durch die Innenstadt? Besuch bei seinen griechischen Freunden. Es regnete ununterbrochen. Fett blieb zu Hause.
Samstagmorgen. Er las im Feuilleton der ZEIT über die Angriffe auf das Café Mohrenkopf in Ingolstadt. Absurde Vorwürfe. Sprachpolizei, dachte Fett. Danach die Lokalzeitung. Eine Professorin der Aachener Uni sollte entlassen werden, weil sie sich weigerte, in ihren Schriften korrekt zu gendern. Ihre Texte seien mittlerweile ein Zehntel länger und unlesbar, wenn sie jedes »Bürger und Bürgerinnen« einfüge, beklagte sich die Betroffene. Wo lebte er eigentlich? Ein Land im Dauererregungszustand. Er blätterte weiter. Keine Fortschritte im Fall des unbekannten Toten in Köln. Na, da hat Theresa ein Problem, dachte Fett, und fast konnte man meinen, er seufze ein wenig. Er kannte Kommissarin Theresa Rosenthal gut aus dem Verhülsten-Fall. Aachener Verleger, der tot in einer Pferdebox auf der Kölner Rennbahn gefunden wurde. Städteübergreifende Ermittlungen. Sie waren sich nähergekommen. Beidseitig. Er blickte suchend aus seinem Küchenfenster in Richtung Köln. Theresa, sie hatte sich lange nicht gemeldet. Abstand halten. Wie beim Autofahren. Sicherheitsabstand.
Vergangenheit, die nicht vergeht
Monika Münzer saß an ihrem Schreibtisch mit Blick auf die gegenüberliegenden Häuser in der Schillerstraße. Sie hatte Glück gehabt, eine Wohnung in Bayenthal zu finden, ein Eckhaus, ehemals für eine Familie gebaut. Die betagte Besitzerin hatte ihr die zwei oberen Etagen zu einem annehmbaren Preis überlassen. Die Mieten in der Gegend waren in letzter Zeit explodiert, aber Frau Schänzel ging auf die 85 zu und hatte eine zuverlässige, sympathische und hilfsbereite Mitbewohnerin gesucht. Das war Monika Münzer. Sie liebte diese Gegend. Alles fußläufig erreichbar. Aldi, Rewe, Penny, alles um die Ecke. Ihr täglicher Einkauf garantierte Frische und passte problemlos ins Fahrradkörbchen, selbst wenn sie Gäste mit ihrem beliebten Ratatouille an Roastbeef bewirtete. Milch, Butter und Schinken für Frau Schänzel fanden auch noch Platz im Einkaufskorb.
Monika nahm einen Schluck von ihrer frisch gebrühten Latte Macchiato und checkte am Samstagmorgen die Online-Medien: Welt, Spiegel, FAZ – Thema