Auf Theresas Klingeln hin stand die alte Dame fertig angekleidet im eleganten schwarzen Yves-Saint-Laurent-Mantel bereit.
»Da bist du ja, Kind.« Die Tante verriegelte die Türschlösser oben und unten, drehte den Schlüssel jeweils zweimal um.
»Immer noch keine Alarmanlage?«, fragte Theresa, die Antwort kennend. Vergeblich bat sie bei jedem Besuch, endlich eine Sicherung einzubauen. Die wohlhabende Verwandte lebte in dem teuren Kölner Villenviertel allein in ihrem Haus. Es hatte mehrere Einbruchversuche gegeben, und Trickdiebe hatten erst kürzlich versucht, die Arme mit irgendeiner Dachdeckernummer zu übertölpeln, worauf sie wenigstens eine Gegensprechanlage installieren ließ, damit Gangster nicht gleich in ihrem Flur standen. Aber wahrscheinlich haut sie ihnen die Handtasche um die Ohren, dachte Theresa, als Tante Clarissa mit eiligem Schritt die Zufahrt hinuntereilte. Der flotte Gang verriet ihr Alter nicht, nur das von Osteoporose zerbröselnde Rückgrat, das sich wie ein Flitzbogen krümmte. Sie schrumpelt langsam weg, bemerkte Theresa, während sie der Tante die Fahrzeugtür aufhielt. Als sie sich ins Auto hineinbeugte, um beim Anschnallen zu helfen, pfiff Clarissa Hammerstadt ihre Nichte an.
»Ich kann das selbst. Bin doch kein Kind mehr.«
»Aber vielleicht wieder«, lachte Theresa. Mit ihrer Tante pflegte sie einen lockeren Umgangston, den die ihr nie übelnahm, anders als ihre eigene Mutter, mit der Theresa bei jedem der seltenen Telefonate aneinandergeriet.
Das Konzert begann erst um acht Uhr, aber die Kommissarin, die immer mal wieder für die kränkelnde Elsa einsprang, kannte das Prozedere der musikalischen Abende. Sie begannen mit einem Glas Champagner und einem Imbiss im »La Brasserie«, gegenüber der Philharmonie. Früher waren sie ins Dom-Hotel gegangen. Das fiel aus, es war im fünften Jahre geschlossen – und damit hatte die einzige Gastronomie auf dem Domplatz den Betrieb eingestellt. In Köln schaffte es nicht nur die Stadt, Chaos im Bausektor anzurichten, auch auswärtige Investoren kriegten das in der Jeckenmetropole hin. Es gab in Köln für ein Hotel keinen attraktiveren Standort als die Lage am Roncalliplatz mit Blick auf das Weltkulturerbe, aber irgendetwas lief bei der Renovierung des altehrwürdigen Hotels schief, und nun bröckelte das Gebäude traurig vor sich hin. Ähnlich wie die Oper. Bauprobleme hatten in der Rheinmetropole Tradition. Für ihren Dom benötigten die Kölner schlappe 623 Jahre bis zur Fertigstellung.
Im Foyer der Philharmonie wurde Theresa Zeuge der fleischgewordenen Statistik zur Überalterung der deutschen Gesellschaft. Die Folgen bekam sie sofort zu spüren. Trotz des erfreulichen Anlasses mufften die alten Leute herum, überfordert durch die Anstrengungen, die es sie kostete, die lädierten Körper vom gemütlichen Eigenheimsessel bis in den Sitz des Konzertsaals zu überführen. Theresa hatte es verpasst, die Restauranttoilette aufzusuchen. Sie musste Tantchen auf einer Sitzbank deponieren und sich im Waschraum der Philharmonie anstellen, wo sich vor den Häuseln eine Schlange der von Inkontinenz Geplagten bildete, unter denen schlechte Stimmung herrschte. Besorgte Blicke auf die Uhren.
»Eigentlich bin ich für das Konzert hergekommen und nicht zur Toilettenbesichtigung«, nörgelte Theresa gut vernehmbar. »Können die hier nicht eine angemessene Anzahl an Scheißhäusern bereitstellen?«, fügte sie wütend hinzu. Strafende Blicke trafen sie. In letzter Zeit nahm Theresa gewisse Anzeichen des Tourettesyndroms an sich wahr. Immer häufiger überfiel sie eine unbändige Lust, ausfallend zu werden. Umso mehr, je distinguierter die Szene war. Vielleicht eine Folge ihrer strengen Erziehung. Die adligen Eltern hatten jegliches Fluchen im Keim erstickt. Womöglich drängte jetzt alle aufgestaute Wut aufs Mal aus ihr heraus.
Eine aus der Toilette herausstolpernde Alte rempelte die Kommissarin an und brummte vergrätzt: »Wenn sich hier nicht all die Musikkretins tummelten, müsste man nicht anstehen.«
Sie waren nicht gut drauf, die reichen deutschen Rentner. Manche der älteren Leute hatten diesen Anspruch auf Vorfahrt im Gesichtsausdruck. Hoffentlich verabschiede ich mich von der Welt, bevor ich solche Attitüden annehme, überlegte Theresa. Frühzeitig und mit üblen Flüchen auf den Lippen. Bei dem Gedanken verbesserte sich ihre Laune. Die Chancen, eine seltsame Alte zu werden, standen eh schlecht. Ihre beiden erwachsenen Söhne würden sie zurechtstutzen. Die ließen ihr nichts durchgehen.
Theresa und ihre Tante schafften es kurz vor acht Uhr, die Sitze einzunehmen. Vor dem eigentlichen Konzert begann das Hustenkonzert. Theresa war froh, dass sie den Außenplatz erwischt hatte. Die letzten Ausläufer der Grippewelle schwappten durch die Sitzreihen. Durch die hervorragende Raumakustik war jeder Hustenakkord perfekt zu vernehmen. Auch Damen, die auf dem oberhalb des Konzertsaals liegenden Heinrich-Böll-Platz mit Stöckelschuhen klapperten, hörte man innen ausgezeichnet. Die Geräusche wurden von den schwingenden Trägern in den Konzertsaal übertragen. Während der Aufführungen wurde der Platz deshalb abgesperrt und bewacht, was jährlich etwa 100.000 Euro Kosten verursachte. Seit der Philharmonie-Eröffnung 1986 hatte die Stadt es nicht geschafft, diese Fehlkonstruktion zu korrigieren.
Bei den ersten Takten von Robert Schumann, Ouvertüre, Scherzo von Opus irgendwas, dämmerte Theresa hinweg. Die schlaflosen Nächte, in denen sie sich gefühlt seit 20 Jahren mit Lesen von üblen Gedanken ablenkte, führten dazu, dass sie einnickte, sobald in einem Kino, Theater oder Konzertsaal die Lichter erloschen. Die Londoner Philharmoniker bemühten sich vergeblich, was Theresa anging. Anders als Tantchen hatte die Kommissarin kein fein ausgebildetes Gehör für Musik. Ihr Kopf fiel abrupt nach vorn. Sie erwachte von dem Ruck, blickte verstohlen zu Clarissa hinüber, ob die sie beim Sekundenschlaf erwischt hatte, und dämmerte bei Schumanns sanften Klängen sofort wieder weg. Applaus weckte Theresa. Sie klatschte kräftig mit.
»Ein paar Ungenauigkeiten, aber überwiegend gut gespielt«, kommentierte die Musikkennerin neben ihr.
Als Theresa ihr zustimmte, lachte die Tante und gab ihrer Nichte einen Klaps auf das Knie. »Heuchlerin, du hast durchgeschlummert. Weiterhin diese schlaflosen Nächte?«, fragte die Tante. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Keine Angst, solange du mich mit ins Konzert nimmst, kann ich den Schlaf ja nachholen. In der zweiten Halbzeit bin ich topfit«, versprach Theresa.
Sie blätterte im Programm: »Piotr Anderszewski, Feingeist und Fabulierer am Klavier ist berühmt für seine Eigensinnigkeit, mit der er die Hörer entzückt, bisweilen auch verstört«, las sie vor. Das Klavierkonzert von Beethoven dudelte an ihr vorbei. Theresa hätte es auch nicht wiedererkannt, wäre es ihr bereits am Vortag vorgespielt worden. Musikalisch brauchte sie stärkere Kost. Strawinskys »Sacre du printemps« wühlte sie auf. Da war sie ganz Ohr und der Körper wollte tanzen. Bei Robert Schumanns Sinfonie Nr. 4 in d-Moll brummte das Handy in ihrer Jackentasche. Sie zog es verstohlen heraus, verdeckte den leuchtenden Bildschirm mit ihrem Schal und sah die Nummer ihres Kollegen Marco Bär, der die Grippe gerade überstanden hatte und wieder einsatzbereit schien.
Sie antwortete per SMS: »Bin im Konzert, was gibt’s?« Die Zuhörer in der Reihe über ihr fingen an zu zischeln. Peinlich. Sie hatte größtes Verständnis, aber die Alternative war, ihren Platz zu verlassen, an allen vorbei die steilen Treppen zu erklimmen, um draußen zu telefonieren. Das Theater wollte sie nicht erleben. Greise Musikliebhaber konnten sehr aggressiv werden.
Bärs Antwort erschien umgehend auf ihrem Bildschirm: »Mordfall!«
»Wo?«
»Friedrich-Schmidt-Str., Ecke Vincenz-Statz-Straße.«
»30