Ganz anders versteht sich der nicht nur außerhalb der Vereinigten Staaten primär mit der Hauptstadt Washington, dem Weißen Haus und dem Präsidenten identifizierte amerikanische Staat, der (zumal in der Epoche des Kalten Krieges) vor allem als institutioneller Rahmen einer aktiv handelnden Weltmacht hervorgetreten war. Seine innenpolitischen Wirkungen und Vorgaben gehen nur selten über die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit hinaus, während kulturpolitische Initiativen aufgrund des zehnten Zusatzes zur amerikanischen Verfassung (Tenth Amendment) den 50 Bundesstaaten überlassen bleiben. Auch Funktionen, die man in Europa unter dem Begriff der Sozialpolitik zusammenfasst, gehören in den Vereinigten Staaten bis heute zu einem Verantwortungsbereich, auf den sich durch private Spenden getragene Einrichtungen konzentrieren, ohne dabei den national existierenden Bedarf auch nur annähernd abzudecken. Andererseits erscheinen in dem vor allem durch seine außenpolitischen Funktionen bestimmten amerikanischen Staat gewisse Institutionsbereiche (etwa das Militär) und bestimmte symbolische Handlungen (etwa der Gruß der Flagge oder das Singen der Nationalhymne) viel deutlicher ausgeprägt als in Europa.
Krisen der westlichen Staatsformen
Nachdem die schon während des Kalten Kriegs bestehenden Unterschiede zwischen dem europäischen Sozialstaat und dem amerikanischen Weltmachtstaat nach dem Verschwinden der gemeinsamen Kontrastfolie des Staatssozialismus so viel klarer ins Bewusstsein getreten waren, verdichteten sich im zweiten Jahrzehnt des gegenwärtigen Jahrhunderts auf beiden Seiten Gefühle der Unzufriedenheit und mithin Eindrücke von veritablen Krisensituationen. Donald Trump (*1946) wäre 2016 nicht zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden ohne die Unzufriedenheit weiter Wählerschichten mit den von seinen Vorgängern unterstellten und verkörperten Auffassungen der amerikanischen Weltmachtrolle. Sie mögen nach dem Eindruck der Kritiker zu ausschließlich auf Vermittlungsleistungen zwischen anderen Nationen konzentriert gewesen sein (daher die Wirkung von Trumps Slogan »Make America great again«). Zugleich reagierten dieselben Wähler auf vorsichtige Ansätze zu sozialstaatlichen Initiativen unter Präsidenten wie Clinton und Obama mit Nervosität, Phobie und sogar Verachtung. Denn viele von ihnen verstehen solche Strategien (selbst dann, wenn sie zu ihrem eigenen Vorteil ausschlagen) als illegitime Interferenzen eines grundsätzlich auf Eigentumsschutz und Außenpolitik festgelegten Staats in ihr privates Leben.
Die andere, in Europa um sich greifende Unzufriedenheit richtet sich einerseits gegen den massiven Wohlfahrtsstaat mit seinen drastischen Umverteilungsmaßnahmen in Form von anscheinend unendlich steigenden Steuern und mit seinen immer häufigeren Eingriffen in die Privatsphäre unter dem Anspruch ethischer Verantwortlichkeit. Andererseits zieht der europäische Wohlfahrtsstaat aber auch Proteste aus der Gegenrichtung auf sich, wenn er Maßnahmen zur Reduktion seiner allumfassenden Versorgung ergreift, die man polemisch, wenn auch ideengeschichtlich unzutreffend, ›neoliberal‹ nennt. Dies zeigte sich gegen Ende des Jahrs 2018 im intensiven und das öffentliche Leben Frankreichs über Wochen stilllegenden Protest der sogenannten Gelbwesten gegen Präsident Emmanuel Macrons (*1977) an sich bescheidene Reformpläne des französischen Staats. Für manche Kritiker des ›Neoliberalismus‹ wird selbst die Staatsform der Volksrepublik China (trotz ihrer demonstrativen Ausblendung der Öffentlichkeit) zu einer Alternative. Vor allem aber war es die Überschneidung der intensiven Proteste in Frankreich mit dem Vorausblick auf eine nach vier Jahren Trump für die Zukunft des amerikanischen Staats entscheidende Wahl, welche uns überzeugte, dass die Zeit für eine neue Debatte gekommen war. Und so machten wir uns an die Planung einer Reihe von Essays, die den Horizont der Gedanken über die Zukunft des Staats und den Staat der Zukunft vermessen sollten. Sie erschienen über das Jahr 2020 im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung.
Vier Fragedimensionen
Die ersten dieser Texte waren gerade erschienen, als im März 2020 die globale Ausrufung der Covid-19-Pandemie in einer ungeahnten Verknüpfung von Impulsen tiefe Veränderung über unseren Alltag verhängte und ausgerechnet den in eine Krise geratenen Staaten die Rolle zentraler Agenten und universaler Lebens-Retter zuwies. Dieses Ereignis intensivierte die laufenden Debatten über die Zukunft des Staats, ohne ihre Inhalte und Perspektiven grundlegend zu verändern. Freilich trieb die Energie des unmittelbaren Problemdrucks unsere Unterscheidungen, Analysen und Argumente weiter, als sie in der Zeit vor 2020 gekommen wären.
Vier Dimensionen, glauben wir, haben sich in den Essays herausgebildet:
Die erste von ihnen gab uns den Titel Zukunft des Staates – Staat der Zukunft für diesen Band vor. Denn eine Mehrheit der Beiträge konzentriert sich auf Aspekte der Zukunft des Staats in dem Sinn, dass sie nach der nächsten Stufe der (möglicherweise unvermeidlichen) Veränderung einer institutionellen Form fragen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert existiert hat. Andere, meist jüngere Autoren versuchen dagegen, sich den ›Staat der Zukunft‹ vorzustellen und gehen dabei (polemisch, ironisch, aber jedenfalls ganz bewusst) von einer Diskontinuität der Zukunft gegenüber den historischen Traditionen des Staates aus, wie sie noch um die Jahrtausendwende im Repertoire unserer Denkgesten gar nicht absehbar war. Sich zum Beispiel die Privatisierung vielfältiger Staatsfunktionen auszumalen, wirkt heute nicht mehr wie ein Sakrileg – und dies durchaus mit gutem Grund.
In der Antike setzt die intellektuelle Vorgeschichte der zweiten in diesem Band vertretenen Fragedimension ein. Es geht dabei um Einstellungen, Verfahren und Strukturen, mit denen die anscheinend nie ausbleibende Expansionsdynamik der Institution ›Staat‹ gesteuert und geformt werden kann.
Solche Kontrolle von außen und von innen ist drittens eng verbunden mit den jeweils verschiedenen erlebten Beziehungen der Bürger zu ihrem Staat. Er kann – mit je spezifischen Konsequenzen – eine Heimat für sie sein, aber auch eine Form der Gemeinschaft, die sie beleben und in der sie sich verwirklichen wollen, oder ein Modus der Selbstvertretung werden, dem sie nicht mehr trauen.
Schließlich haben über die vergangenen drei Jahrzehnte Entwicklungen der elektronischen Technologie zu drastisch divergierenden Spekulationen von der Erfüllung und vom drohenden Missbrauch der Staatsfunktionen geführt.
Trotz ihrer durch die Covid-Gegenwart erhöhten intellektuellen Intensität sind unsere Texte natürlich weder bei empirischer Vollständigkeit noch bei einer philosophischen Kohärenz angekommen, die zur Grundlage für neue Formen der Praxis im Staat werden könnten. Doch sie haben eine Komplexität der Vorstellungen, des Denkens und der Fragen eröffnet, an der wir unbedingt festhalten sollten.
Noch unentbehrlich: Wie der Staat sich wandelt
Dieter Grimm
Der moderne Staat als dominante politische Existenzform von Völkern oder Gesellschaften entstand vor etwa 450 Jahren. Genauer lässt sich das nicht bestimmen, denn bei der Staatsbildung handelt es sich nicht um ein Ereignis, sondern um einen Prozess, der örtlich und zeitlich unterschiedlich verlief und vor der Französischen Revolution nirgends zum Abschluss kam.
In diesen 450 Jahren hat sich der Staat vielfach gewandelt, vom absoluten Staat zum Verfassungsstaat, vom konfessionellen Staat zum säkularen Staat, vom liberalen Staat zum Sozialstaat. Fast alle Veränderungen gingen mit Nachrufen auf den Staat einher, aber am Ende war es doch nur eine bestimmte Form des Staates, die unterging, nicht dieser selbst. Eines blieb allerdings über die Jahrhunderte gleich: Wo sich der Staat herausbildete, kam es zu einer Konzentration der öffentlichen Gewalt und zur Monopolisierung der Mittel legitimen Zwangs. Öffentliche Gewalt und Staatsgewalt fielen in eins.
Im Besitz der öffentlichen Gewalt war der Staat auf seinem Territorium konkurrenzlos. Jenseits der Grenzen gab es andere Staaten, die auf ihrem Territorium ebenfalls umfassende öffentliche