Doch waren die Motive der römischen Besorgnis damit noch nicht erschöpft. Allzu lange hatte Giulio de’Medici, der spätere Papst Clemens VII., mit seiner ganzen Familie in den Zeiten ihres Exils 1494 bis 1512 die Gunst von Karls Großvater Maximilian genossen. Dass aus dem ehemaligen Klienten jetzt ein Gegner geworden war, konnte man durch eine nicht minder wohlklingende Wendung begründen: Rollentausch, Identitätsauswechslung, Annahme höherer Wesenszüge, eine Verwandlung, wie sie – so die offizielle Version des Papsttums – die Erhebung auf den Stuhl Petri durch den Heiligen Geist bewirke. Auch für diese Erklärung brachte Karl V. viel Verständnis auf, hatte er doch selbst in seinem erst 25-jährigen Leben mehr Länder und Titel geerbt als je ein Sterblicher vor ihm und damit stetig an internationaler Statur und Rang gewonnen. Auf diese Weise aber mussten die gerade noch Ebenbürtigen zu Vasallen schrumpfen – oder Freunde zu Feinden werden. Das alles war als unvermeidlich akzeptiert. Und auch dass dieser Verrat in der Stunde der Not und zuerst heimlich geschah, ist durch die neue Idee der Staatsräson gedeckt, wie sie wenige Jahre zuvor von Machiavelli prägnant formuliert, aber schon seit langem praktiziert wurde. Wenn sich das alles durch Normen entschuldigen ließ, was treibt dann dem Historiker Francesco Guicciardini mehr als ein Jahrzehnt danach den Angstschweiß auf die Stirn? Um diese Beklommenheit zu verstehen, muss man einen kurzen Umweg einschlagen. Er führt über den Charakter des regierenden Papstes.
Clemens VII., so Guicciardini, ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall: Er glaubt, dass andere seine Lügen glauben. Und noch seltsamer: er glaubt die Lügen der anderen. Zudem ist er chronisch entscheidungsunfähig. Hat er einen Beschluss gefasst, überkommt ihn postwendend die tiefste Reue, sich so und nicht anders entschieden zu haben, woraufhin alles wieder rückgängig gemacht wird und die qualvolle Prozedur von vorne beginnt. Auf diese Weise hat der Papst schnell den Respekt der Kurie und damit seine Autorität gegenüber den Prälaten verspielt. Sein pathologischer Schwebezustand dringt zudem nach außen. Wie sollte es auch anders sein, wenn ein Eilbote dem anderen nachjagt, um eben ausgesandte Briefe wieder einzuziehen? Manchmal ist der erste Kurier so schnell, dass er nicht mehr eingeholt werden kann. Dann bekommen gekrönte Häupter sich widersprechende Botschaften des Papstes zu lesen – mit äußerst abträglichen Folgen für dessen Reputation. Vertrauen wird verspielt, Misstrauen macht sich breit. All dies hat zur Folge, dass der Medici-Papst Verhandlungen grundsätzlich doppelgleisig, immer mit den beiden verfeindeten Seiten zugleich führt, was ihm notwendigerweise als Doppelzüngigkeit, ja als Unehrlichkeit ausgelegt wird, umso mehr, als er für dergleichen heikle Manöver nicht die notwendige Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit besitzt. Ganz im Gegenteil. Antrieb seiner Politik ist überwiegend Angst, die sich nicht zuletzt aus dem Misstrauen nährt, welches er selber einflößt, und deren logische Ergänzung, die Gier, der unersättliche Hunger nach noch mehr Macht, vor allem in Florenz, wo die Medici nach ihrer Vertreibung von 1494 seit 1512 hinter der immer brüchigeren Fassade der Republik de facto die Herrschaft ausüben.
Porträt des Francesco Guicciardini
Gedankenschwer im Staatsgewand, so zeigt das Cristoforo dell’Altissimo zugeschriebene Porträt Francesco Guicciardinis den Florentiner Patrizier. Zugleich ist der Betrachter versucht, in die melancholischen Züge des vorzeitig gealterten Historikers und Staatsdenkers Todesnähe und Verachtung der Welt, speziell ihrer Mächtigen, hineinzulesen. Vor allem aber ist das Bildnis gemalte Memoria, ein Werk des Gedächtnisses und des Gedenkens für die Familie. Sie hat diesen Auftrag getreulich erfüllt; das Studierzimmer des – so Felix Gilbert – größten Intellektuellen der Renaissance im Palazzo von Oltrarno erweckt den Eindruck, als habe er soeben erst die Feder aus der Hand gelegt.
Psychologisch entspricht dieser uneingeschränkt in Anspruch genommenen Lizenz zum Täuschen eine ebenso unbegrenzte Naivität, die Hinterhalte der anderen betreffend. Dieser Papst rechnet nie mit dem Prinzip des „Wie du mir, so ich dir“. Darin spiegelt sich eine fatale Überschätzung des Amtskredits, härter ausgedrückt: der Wahn, als Statthalter Christi in einem christlichen Europa unantastbar zu sein. Eine solche Rechnung aber ist ohne den Zeitgeist gemacht. Dieser nämlich unterscheidet zwischen der Sakralität des Papstamtes und der mehr oder minder hohen Würdigkeit seines Inhabers. Darüber aber macht sich kaum jemand falsche Vorstellungen – der Heilige Geist, so Guicciardini, lässt sich in den unreinen Seelen der heutigen Kardinäle gewiss nicht nieder. Und schließlich lag die Absetzung dreier ungeeigneter Päpste durch das eine und allmächtige Konzil in Konstanz erst einhundertacht Jahre zurück. Unangreifbar also war das Amt, nicht aber eine Person oder gar eine Familie. Beiden, Papst und Nepoten, konnte man im Fall extremer Regelüberschreitungen durchaus eine grausame Lektion erteilen.
Rachegelüste gegenüber Rom und dem Papsttum hatte zudem die Reformation seit 1517 kräftig geschürt. In der Beurteilung dieses zuerst rein theologischen, doch schnell auch politisch motivierten Fundamentalaufstandes gegen die römische Autorität unterläuft dem Papsttum – und speziell Clemens VII. – die folgenreichste Fehleinschätzung seiner Geschichte. Nichts Neues unter der Sonne, so lautet das Fazit der vatikanischen Haustheologen, ein fader Aufguss längst abgetaner Häresien, künstlich aufgebauscht durch die üblichen Erpressungsversuche gekrönter Häupter – und durch entsprechende Gegenmanöver leicht zu ersticken. Auf diese Weise übersieht man in Rom nicht nur die Anziehungskraft dieses theologisch-kirchlichen Gegenentwurfs auf intellektuelle und politische Kreise, sondern man verkennt auch die tiefe Erregung der Massen, die durch die ungeheuer grobschlächtige antirömische Propaganda hervorgerufen wird. In Hunderttausenden von illustrierten Flugblättern nämlich wird den einfachen Leuten im Bild vorgeführt, wie sie mit dem Papst und seinen Kardinälen zu verfahren haben – und warum: Schlagt sie tot, denn sie sind des Teufels. Das alles und noch manches mehr entzieht sich der selbstzufriedenen Wahrnehmung der Kurie. Mit einem solchen Papst so schweren Zeiten entgegenzugehen, macht vielen Römern Angst. Wer es sich leisten kann, setzt sich ab, in Vorausahnung dessen, was da kommen sollte. Im Rückblick erscheint Guicciardini das Verhängnis geradezu vorprogrammiert: ein Lehrstück, wie man scheinbar unerschöpflichen politischen und sozialen Kredit vergeudet, eine Parabel von der Pathologie der Macht, vom Zerstörungspotential der unbeschränkten Einzelherrschaft, wenn diese in falsche Hände fällt.
Franz I. in der Gewalt Karls V., d. h. ein christlicher Fürst von einem anderen gefangen gesetzt. Das war eine Konstellation, die päpstliche Interventionen zugunsten des Unterlegenen auf den Plan rief. Offiziell wurden diese Bemühungen mit der Rolle des Pontifex maximus als gemeinsamer Vater der Christen und Tröster der Gedemütigten gerechtfertigt, 1525 waren sie de facto vom Bedürfnis Roms motiviert, einen Schutzwall gegen das unaufhaltsam expandierende Imperium Karls V. zu errichten. So stoßen die Venezianer bei Clemens auf offene Ohren mit ihrem Vorschlag, ein bewaffnetes Schutz- und Trutzbündnis gegen den Kaiser zu schließen. Der Pakt ist unterschriftsreif aufgesetzt und ein Kurier zum König von England, der ihm beitreten soll, schon unterwegs, als ein kaiserlicher Gesandter mit Gegenvorschlägen Karls eintrifft. Dadurch wird der eben vereinbarte Vertrag schlagartig hinfällig und der Bote per Eilpost gestoppt.
Natürlich ist die Markus-Republik von dieser Richtungsänderung Roms zutiefst irritiert, umso mehr, als sie viel Geld zahlen müsste, um in diese Allianz einbezogen zu werden. Dieser Ärger lässt Clemens kalt; Hauptsache er und seine Familie genießen die Gunst des Siegers. Und so werden der Papst und die Medici schon am 1. April 1525 – gerade einmal fünf Wochen nach der Schlacht von Pavia – in den umfassenden Schutz des Kaisers aufgenommen. Zusätzlich verpflichten sich beide Seiten, Francesco Sforza, den schattenhaften, vom Reichsoberhaupt abhängigen Herzog von Mailand, durch Truppen zu unterstützen. In seiner Erleichterung über dieses Abkommen, das er für die Lösung aller seiner Probleme hält, tut der Papst sogar mehr als verlangt. Aufgrund unverbindlicher Zusicherungen Karls veranlasst er das französische Heer, den geplanten