Das Gemeindekind. Marie von Ebner-Eschenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie von Ebner-Eschenbach
Издательство: Bookwire
Серия: Reclams Universal-Bibliothek
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618883
Скачать книгу
gekommen, war der Eintritt in den Wald jedem Unbefugten ein für alle Mal verboten worden. Das neue Gesetz machte böses Blut und reizte gewaltig zu Übertretungen.

      Es bildete sich eine Bande von Buben und Mädeln, lauter Häuslerkindern, deren Führerschaft Pavel übernahm wie ein natürliches Recht. In kleinen Gruppen wanderten sie hinaus, lustig, kühn und schlau. Sie kannten die Schlupfwinkel und gedeckten Stege besser als selbst die Heger und gingen mit köstlichem Gruseln ihren Abenteuern entgegen, die nur auf zweierlei Weise enden konnten. Entweder glücklich heimkehren, das gestohlene Holz auf dem Rücken, mit der Aussicht auf Lob und ein warmes Abendessen, oder erwischt werden und Prügel kriegen, an Ort und Stelle wegen Dieberei und daheim, weil man sich hatte erwischen lassen. Das letztere Schicksal traf selten einen anderen als Pavel, dem es oblag, den Rückzug zu decken, und den man immer im Stiche ließ, weil man seiner Verschwiegenheit sicher war. Der Pavel verriet keinen, und hätte er es getan, dem schlechten Buben würde man nicht geglaubt haben.

      Sein Ruf verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Fand sich im Walde irgendeine böswillige Beschädigung vor, sie war sein Werk. Entdeckte man eine Schlinge, er hatte sie gelegt; fehlten Hühner, Kartoffeln, Birnen, er hatte sie gestohlen. Trat ihn jemand an und drohte ihm, dann stellte er sich und starrte ihm stumm ins Gesicht. Die alten Leute schimpften ihn nicht einmal mehr; er wäre imstande, meinten sie, einem Steine nachzuwerfen aus dem Busch. So schwarz [38]erschien er mit der Zeit, dass die Familie Virgil förmlich in Unschuld schimmerte im Gegensatz zu ihm.

      Dass Pavel hundert Hände und die Kraft eines Riesen hätte haben müssen, um die zahllosen Schelmenstreiche, die ihm zugeschrieben wurden, wirklich auszuführen, überlegten seine Mitbürger nicht; er aber kam langsam dahinter, und ihn erfüllte eine grenzenlose Verachtung der Dummheit, die das Unsinnigste von ihm glaubte, wenn es nur etwas Schlechtes war. Er fand einen Genuss darin, das blöde und ihm übelgesinnte Volk bei jeder Gelegenheit von neuem aufzubringen, und wie ein anderer im Bewusstsein der Würdigung schwelgt, die ihm zuteilwird, so schwelgte er in dem Bewusstsein der Feindseligkeit, die er einflößte. Was er zu tun vermochte, sie zu nähren, das tat er, und kannte Aufrichtigkeit nicht einmal gegen den Geistlichen im Beichtstuhl.

      Die Zeit verfloss; der Sommer ging zur Neige; der erste September, der Tag des großen Kirchenfestes, kam heran. Im vorigen Jahre noch hatte sich Pavel durch die Menge gedrängt und während des Hochamtes barfüßig und zerlumpt unter den Bauernkindern gekniet, dicht an den Stufen des Altars. Heute trat er nicht in die Kirche ein; er hielt sich draußen wie die Bettler und Vagabunden, zu denen er seiner Ausstaffierung nach passte. Sein ehemals langer grüner Rock reichte ihm jetzt gerade bis zum Gürtel und präsentierte, geplatzt an allen Nähten, eine Musterkarte von abgelegten Kleidern der Virgilova in Gestalt von großen und kleinen Flicken. Das grobe Hemd ließ die Brust unbedeckt, die Leinwandhose, altersgrau und verschrumpft, war so hoch über die Knie heraufgezogen, als ob ihr Eigentümer eben im Begriff sei, durch den Bach zu waten.

      [39]Pavel stand mit dem Rücken an die Planken des Pfarrhofgartens gelehnt, die Arme über den zur Seite geneigten Kopf erhoben, und sah gleichgültigen Blickes den Zug der Kirchgänger vorüberwallen. In Scharen kamen Bursche und Mädel heran; die Letzteren begaben sich sofort in das Gotteshaus, die Ersten blieben bei den am Weg aufgerichteten Marktbuden zurück und erwarteten, deren Inhalt musternd, das Zusammenläuten zur Predigt. Einer unter ihnen, ein kleiner junger Mensch mit hässlichem, flachgedrücktem Gesicht, tat sich dabei durch ein auffallend protziges Wesen hervor. Er trug feine, halbstädtische Kleidung; an die schwarze Jacke war aus lauter Wohlhabenheit so viel Stoff verschwendet worden, dass sie sich vorne wie eine Tonne blähte und sich hinten zu einem stolzen Katzenbuckel aufbauschte. Die anderen Bursche begegneten dem Dorfstutzer mit einer Rücksichtnahme, die trotz einer kleinen Beimischung von Spott den Wunsch verriet, auf gutem Fuße mit ihm zu stehen. Natürlich auch! Er war ja der Peter, der einzige Sohn des Bürgermeisters, der Erbe des größten, im besten Stande befindlichen Bauernhofes im ganzen Orte.

      Das erste Glockenzeichen klang vom Turme; der Zudrang der Bevölkerung zur Kirche hatte aufgehört; hastend eilten nur noch einzelne Verspätete die Dorfstraße herab. – Ganz zuletzt, ganz allein erschien Vinska und erregte alsbald die Aufmerksamkeit des Hofstaats, der den Peter umgab.

      »Sackerment!« hieß es, »die Vinska! Was die heute schön ist! – Wie prächtig ihr das Kopftüchlein steht. – Es ist von Seide, meiner Treu! – Und wenigstens sechs Röcke hat sie an. – Und wie bescheiden sie tut! O du Heilige du!«

      [40]Jeder hatte ein boshaftes Wörtlein für sie, oder ein galantes, das viel beschämender war als das boshafte. Nur der Peter schwieg und sah aufmerksam einem Vogel nach, der auf dem Eckpfeiler des Pfarrhofgartens gesessen hatte und sich in die Luft schwang bei Vinskas Nahen. Sie war bald in der die Kirchenpforte umstehenden Menge verschwunden. Die Bursche folgten ihr nach, und Pavel hörte den einen von ihnen zum andern sagen: »Ich möcht nur wissen, wie der Virgil, der alte, krummbeinige Lump, zu der hübschen Tochter gekommen ist.«

      Der Angeredete verzog den Mund: »Und ich möcht wissen«, erwiderte er, »wie die Tochter des Lumpen zu den schönen Kleidern gekommen ist!«

      Dass sie schöne Kleider trug, hatte Pavel nicht bemerkt, und von der ganzen Vinska nichts gesehen als ihre Füße oder eigentlich ihre Stiefel! – Eine halb verwischte Erinnerung an eine große Freude, an ein bitteres Leid, war beim Anblick derselben in ihm aufgetaucht, und er sann ihr nach in seiner langsamen und hartnäckigen Weise.

      Wenn ihn die Vinska schalt, schloss sie meistens mit den Worten: »Und dumm bist du, dumm, der Dümmste im ganzen Dorfe.« Vor kurzem noch hatte diese Versicherung ihn kühl gelassen, seit einiger Zeit begann sie ihn zu verdrießen; ihm schwante, dass etwas Wahres an ihr sei. »Dumm«, murmelte er und griff sich an die Stirn, »aber so dumm doch nicht, wie sie glaubt, die Spitzbübin.« So dumm doch nicht, dass aus seinem Gedächtnis alles verschwunden wäre, was sich vor einem Jahre begeben hatte, und dass er nicht vermöchte, einen Verdacht, der damals schon flüchtig in ihm aufgestiegen war, von neuem, und jetzt kräftiger, zu fassen.

      [41]Das Hochamt dauerte lange; die Sonne stand bereits im Scheitel, als Gesang und Musik endlich verstummten und die Beter so eilig aus der Kirche herausdrängten, wie sie hineingedrängt hatten. Pavels Augen suchten nur die eine und vermochten nicht, sie zu entdecken, auch dann nicht, als das Gewühl sich zerstreute und ein Teil der Leute die Marktbuden umringte, der andere in leicht übersehbarem Zug die Dorfstraße hinanschritt. Vinska war wie verschwunden, und der Peter mit ihr.

      Nach der Messe wäre es Pavels Sache gewesen, heimzukehren und mit Virgil das Vieh auf die Weide zu treiben; aber das fiel ihm heute nicht ein. Er vagabundierte in der nächsten Umgebung auf den Feldern und im Walde herum und suchte die Vinska. Bis zur Wut gesteigerte Ungeduld kochte in seiner Brust, und quälend nagte der Hunger an ihm.

      Gegen Abend kam er zum Wirtshaus, vor dem es lustig zuging. Betrunkene sangen, Buben balgten sich, kleine Mädchen hüpften im Reigen beim Schall des Zimbals und der Fiedeln, der durch die offene Tür herausgellte. Neugierige hielten die Fenster der Tanzstube besetzt, beobachteten, was drinnen vorging, und machten ihre Glossen darüber. Nach langem Kampf eroberte Pavel einen Platz zwischen ihnen und sah die Paare sich drehen im dunstigen, spärlich erleuchteten Gemach. Ganz nahe am Fenster, an dem er stand, schwenkte Peter die Vinska auf einem Fleck herum. Er war schon stark angetrunken, hatte die Jacke und mit ihr seine vornehme Zurückhaltung abgelegt. Der Peter in Hemdärmeln war ein so ordinärer Kumpan wie der erste beste Knecht.

      Die Vinska in seinen Armen schlug züchtig die Augen zu [42]Boden und erglühte feuerrot bei den Reden, die er ihr zuflüsterte, und den Küssen, die er ihr raubte.

      Über den Anblick vergaß Pavel seinen Hunger – seine Ungeduld wich einem rasenden, ihm unbegreiflichen Schmerz; wie in den Fängen eines Raubtieres wand er sich und brachte ein entsetzliches Röcheln hervor.

      Die Umstehenden erschraken; man stieß ihn hinweg, und er wehrte sich nicht; er schlich davon, durch die langsam hereinbrechende Dunkelheit, seinem unheimlichen Daheim zu. Aus der Hütte schimmerte ihm der ungewohnte Glanz einer brennenden Kerze entgegen. Sie war auf dem Fenstersimse aufgepflanzt, und in dem von ihrem Schein erhellten Stübchen saßen Virgil und sein Weib auf der Bank, und zwischen ihnen stand ein Teller mit Braten und eine Flasche Branntwein. Die beiden