Das Gemeindekind. Marie von Ebner-Eschenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie von Ebner-Eschenbach
Издательство: Bookwire
Серия: Reclams Universal-Bibliothek
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618883
Скачать книгу
lüg nicht, ich sag, was ich glaube und was andere glauben.«

      »Wer, wer glaubt das?«

      Sie antwortete ausweichend, aber er packte ihre Arme mit seinen großen Händen, zog sie an sich und [53]wiederholte: »Wer sagt das, wer glaubt das?« bis sie geängstigt und gefoltert hervorstieß: »Der Arnost.«

      »Mir soll er’s sagen, mir; ich schlag ihm die Zähn ein und schmeiß ihn in den Bach.«

      »Dir wird er’s nicht sagen, vor dir fürchtet er sich – lass mich los, ich fürcht mich auch; lass mich los, guter Pavel.«

      »Aha, fürcht’st dich, fürcht dich nur!« sprach er triumphierend und – entwaffnet. Zum Spaß rang er noch ein wenig mit ihr und gab sie plötzlich frei. Reicher Lohn wurde ihm für seine Großmut zuteil: Die Vinska sah ihn zärtlich an und lehnte einen Augenblick ihren Kopf an seine Schulter. Ein Freudenschauer durchrieselte ihn, aber er rührte sich nicht und bemühte sich, gleichgültig zu scheinen.

      »Pavel«, begann Vinska nach einer Weile, »ich hätt eine Bitte, eine ganz kleine. Willst sie mir erfüllen? – Es ist leicht.«

      Sein Gesicht verdüsterte sich: »Das sagst du immer, ich weiß schon. Was möcht’st du denn wieder?«

      »Der alte Schlosspfau hat noch ein paar schöne Federn«, sagte sie, »rupf sie ihm aus und schenk sie mir.«

      Sie bat in so kindlichem Ton, ihre Miene war so unschuldig und er völlig bezaubert. Er ließ sich’s nicht merken, brummte etwas Unverständliches und schob sie sachte mit dem Ellbogen weg. Dann nahm er die Peitsche vom Herd und ging zur Schwemme, die Pferde zusammenzuholen, mit denen er auf der Hutweide übernachten sollte.

      Die Hutweide lag in einer Niederung vor dem Dorfe, nicht weit vom Kirchhof, der ein längliches Viereck bildete und sich, von einer hohen weißgetünchten Mauer umgeben, ins Feld hineinstreckte. Es war eine Nacht, so lau wie im Sommer; in unbestrittenem Glanz leuchtete der Mond, [54]und die von seinem Licht übergossene Wiese glich einem ruhigen Wasserspiegel. Still weideten die Pferde. Pavel hatte sich in seiner Wächterhütte ausgestreckt, die Arme auf den Boden, das Gesicht auf die Hände gestemmt, und beobachtete seine Schutzbefohlenen. Die Fuchsstute des Bürgermeisters, die weißmähnige, war früher sein Liebling gewesen; seitdem er aber den Sohn des Bürgermeisters hasste, hasste er auch dessen Fuchsstute. Sie kam, auf alte Freundschaft bauend, zutraulich daher, beschnupperte ihn und blies ihn an mit ihrem warmen Atem. Ein Fluch, ein derber Faustschlag auf die Nase war der Dank, den ihre Liebkosung ihr eintrug. Sie wich zurück, mehr verwundert als erschrocken, und Pavel drohte ihr nach. Er hätte alles von der Welt vertilgen mögen, was mit seinem Nebenbuhler in Zusammenhang stand. Das Versprechen der Vinska flößte ihm kein Vertrauen ein; es war viel zu rasch gegeben worden, viel zu sehr in der Weise, in welcher man ein ungestümes Kind beschwichtigt.

      Sie will kein Geschrei, kein Aufsehen; sie tut ja seit einiger Zeit so ehrbar, hat ihr früheres übermütiges Wesen, ihre Gleichgültigkeit gegen die Meinung der Leute abgelegt. Die Angst und Hast, mit der sie ausgerufen hatte: »Es soll nicht heißen, dass zu uns Briefe kommen aus dem Zuchthaus«, klang dem Pavel noch im Ohr. Er meinte, das Blatt an seiner Brust brenne; er griff danach und zerknüllte es in der geballten Faust. Was brauchte sie ihm aber auch zu schreiben, die Mutter? Hatte sie noch nicht Schande genug über ihn gebracht? Sie stand zwischen ihm und allen andern Menschen. Zwischen ihn und die Vinska, die so viel bei ihm galt, sollte sie ihm nicht treten … In seinem tiefsten Innern glaubte, ja wusste er: Seine Mutter hat das nicht getan, [55]dessen man sie beschuldigt, und dennoch trieb ihn ein dunkler Instinkt, sich selbst zu überreden: Es kann wohl sein … Und aus dem schwankenden Zweifel wuchs ein fester Entschluss hervor: Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ihren Brief zerriss er in Fetzen. Auf dem letzten, den er in der Hand behielt, waren noch die Worte zu lesen: »Deine Mutter die ärmste auf der Welt …« Das bist du, musste er doch etwas wehmütig berührt zugestehen, das bist du von jeher gewesen … Ihre große Gestalt tauchte vor ihm auf in ihrem Ernst, in ihrer Schweigsamkeit. Abends erliegend unter der Last der Arbeit, der Not, der Misshandlung, am Morgen wieder rastlos am Werke. Er sah sich als Kind an ihrer Seite, von ihrem Beispiel angeeifert, schon fast so still und so vertraut mit der Mühsal wie sie. Er erinnerte sich mancher derben Zurechtweisung, die er durch seine Mutter erfahren, und keiner einzigen Äußerung ihrer Zärtlichkeit … vieler jedoch ihrer stummen Fürsorge, ganz besonders der alltäglich vorgenommenen ungleichen Teilung des Brotes. Ein großes Stück für jedes Kind, ein kleines für sie selbst …

      Pavel begann die Fetzen des Briefes zusammenzulesen, legte sie aufeinander und betrachtete das Päckchen, ungewiss, was er damit anfangen sollte. Endlich trug er’s zum Friedhof und begrub es dort zu den Füßen der Mauer, unter den herüberhängenden Zweigen einer Traueresche.

      In seine Hütte zurückgekehrt, legte er sich hin und schlief ein und träumte von dem schönen Hemde, das Vinska für ihn genäht und das eine große Frau mit verhülltem Antlitz, in dunkle Sträflingsgewänder gekleidet, ihm streitig zu machen suchte. Das Bild dieser Frau verfolgte ihn fortan; und wenn er in mondhellen Nächten nur eine Weile unverwandt nach dem Friedhof blickte, ballte es sich [56]zusammen aus Nebel und Dunst und glitt an der schimmernden Mauer vorbei. Pavel starrte die Erscheinung mit tiefem Grauen an und dachte: Meine Mutter ist vermutlich gestorben und »meldet« sich bei mir.

      Der Vinska erzählte er von diesem Erlebnis nichts, hätte auch keine Gelegenheit dazu gehabt. Sie war unfreundlich mit ihm, guckte immer nach seinen Händen, wenn er heimkam, sagte spitz: »Schönen Dank für die Federn!« – und ging ihm übrigens schmollend aus dem Wege. – Er sah wohl ein, das würde nicht anders werden, bevor er ihr den Willen getan, und so bequemte er sich zur Erfüllung ihres kindischen Wunsches, die ihm eine leichte Sache schien. Seit Miladas Abreise stand die Pforte des Schlossgartens wieder offen von früh bis abends, und der alte Pfau stelzte unzählige Male im Tag an ihr vorbei.

      Er hatte in der Tat nur Reste seines sommerlichen Federschmucks übrig behalten, drei Prachtexemplare an lächerlich langen, von Nachwuchs noch unbedeckten Kielen. Eines Tages lauerte Pavel ihm auf, und als er ihn kommen sah, schlich er ihm nach in den Garten. Längs eines schmalen Weges, den Bäume und Büsche gegen das Haus deckten, schritt der Vogel gemächlich hin und pickte aus purer Jagdlust hie und da ein Insekt vom Boden auf. Plötzlich musste er, so leise Pavel auch auftrat, dessen Schritte vernommen haben; denn er blieb stehen, reckte mit einer raschen Wellenbewegung den Hals und wandte den Kopf seinem Nachfolger zu, wie fragend: Was willst du von mir? – Wirst gleich sehen, dachte der Bursche, und als Meister Pfau ein schnelleres Tempo einschlug, machte Pavel ein paar Sätze, glitt aus und fiel nieder, verlor aber die Geistesgegenwart nicht, sondern streckte die Hand aus und entriss mit [57]festem, glücklichem Griff dem Vogel auf einmal seine letzte Zier. Der stieß ein raues Alarmgeschrei hervor, machte kehrt, schnellte halb fliegend, halb springend empor, und ehe der noch am Boden Liegende sich besann, saß ihm das zornige Tier im Nacken und hackte mit dem harten, scharfen Schnabel auf seinen Kopf, seine Schläfen los. Es tat weh, kam dem Pavel jedoch sehr komisch vor, dass ein Vogel sich in einen Kampf mit ihm einließ. Er lachte – wohl etwas krampfhaft – und machte eine heftige Anstrengung, das Tier abzuschütteln. Aber es krallte sich mit unheimlicher Stärke fester, spreizte die Flügel, hielt sich im Gleichgewicht, und immerfort kreischend, streckte es den kleinen Kopf weit vor, die Augen seines Feindes suchend und bedräuend …

      Da wurde diesem angst … Mit beiden Händen griff er nach dem langen blauen Hals, dessen Gefieder sich unter seinen Fingern sträubte, und drehte ihn zusammen wie zu einem Knoten. Das Tier gab noch einen schrillen, verzweiflungsvollen Laut und glitt über Pavels Schulter zur Erde, wo es auf dem Rücken liegen blieb mit zusammengezogenen zuckenden Füßen. Ob tot, hatte der Sieger nicht mehr Zeit, sich zu überzeugen; denn er sah aus dem Schlosse Leute herbeikommen, raffte die Federn vom Grase auf und war wie der Blitz aus dem Garten. Draußen auf der Straße mäßigte er seine Schnelligkeit, um nicht durch sie die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen. Das Herz pochte ihm heftig, und er dachte an den Lärm, den es im Schlosse bei der Auffindung der zappelnden Pfauenbestie absetzen würde. An der Spitze der Schar, die auf deren Geschrei nach dem Kampfplatz geeilt war, meinte er die Frau Baronin erkannt zu haben.

      [58]Eine Weile ging Pavel unbehelligt