Geschäftsführer Forum Bildung
Einleitung
Über lange Zeit hinweg hat sich der pädagogische Diskurs zu Fragen der Schulentwicklung sehr stark auf innovative Schulen konzentriert. Ende des 19. Jahrhunderts waren reformpädagogische Pionierschulen zum Gegenstand einer lebhaften Auseinandersetzung geworden, bei der zum einen über die Vorbildlichkeit und zum anderen über die Verallgemeinerbarkeit dieser Innovationen diskutiert wurde. War diese Diskussion zunächst vor allem von bildungstheoretischen Erwägungen geprägt, verschob sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts der Fokus zu empirischen Studien über Schulentwicklung und Schuleffektivität. Auch dabei blieb der Blick zunächst recht stark auf die Frage konzentriert, wie aussagekräftige Befunde zu »Good Practice« oder sogar zu »Best Practice« zu gewinnen sind. In der Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Schulen sich positiv entwickeln, weitete sich der Blickwinkel auf das Problem der sozialen Benachteiligung aus: In Stadtvierteln, die durch Armut, ethnische Segregation oder Gewaltkriminalität geprägt sind, ergeben sich andere Voraussetzungen für die Schulentwicklung als in wohlhabenden Quartieren.
Eine wichtige Erkenntnis lautete indes, dass der Standort einer Schule im Hinblick auf ihre pädagogische Wirksamkeit keine schicksalhafte Bedeutung hat: Lag bei wegweisenden Studien aus den 1960er-Jahren ein Hauptaugenmerk auf Aspekten sozialer Ungleichheit und Benachteiligung (z. B. Coleman et al., 1966), zog im Laufe der Siebziger- und Achtzigerjahre die Entdeckung, dass es Schulen gibt, die unter schwierigen Bedingungen sehr erfolgreich arbeiten (z. B. Mortimore, Sammons, Stoll, Lewis & Ecob, 1988; Rutter, Maughan, Mortimore & Ouston, 1979), mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich. Diese Entdeckung wurde im pädagogischen Diskurs unter anderem deshalb so lebhaft rezipiert, weil sie auch als Würdigung professioneller Kompetenz zu lesen war: Lehrpersonen und Schulleitungen sind in der Lage, einen bedeutsamen positiven Unterschied zu machen; sie können Kindern und Jugendlichen durch klugen und beharrlichen Einsatz mehr vermitteln, als aufgrund der Rahmenbedingungen der Schule zu erwarten wäre.
Die gute Nachricht hat indes auch eine Kehrseite, die seit den 1990er-Jahren in den Fokus wissenschaftlicher und bildungspolitischer Diskussionen gerückt ist: Es gibt Schulen, die einen Unterschied im negativen Sinne machen, weil sie dauerhaft hinter den an sie gestellten Erwartungen zurückbleiben und gravierende Probleme aufweisen, die nicht einfach ihrer sozialen Umwelt angelastet werden können. Im englischen Sprachraum hat sich für dieses Phänomen der Begriff der »Failing School« eingebürgert.
Der Begriff failure verweist auf die unangenehme Überraschung, dass eine als normal erwartete Leistung mehr oder minder abrupt ausbleibt. Das Wörterbuch hält hier zunächst Beispiele wie Herz- und Nierenversagen bereit, dann auch das Beispiel von Maschinen, die ihren Dienst nicht erfüllen. Die meisten Beispiele sind sich darin ähnlich, dass auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, warum die Funktion nicht erwartungsgemäß erfüllt wird. Die Wortgeschichte geht über das französische Verb faillir zum lateinischen Verb fallere zurück, das neben dem Bedeutungsfeld des Versagens auch in das Bedeutungsfeld des Enttäuschens hineingehört. Weil die Schule mehrere Funktionen zu erfüllen hat, die teilweise in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen (Fend 2006, S. 49ff.), können Probleme innerhalb des Bildungssystems in unterschiedlicher Hinsicht Enttäuschungen auslösen: So kann es im Hinblick auf die Qualifizierungs- und Allokationsfunktion enttäuschend sein, dass messbare Lernfortschritte ausbleiben oder dass sich kein bruchloser Übergang zwischen Schule und Arbeitsmarkt ergibt. Des Weiteren kann es im Hinblick auf Selektionsprozesse enttäuschend sein, dass sich die Schule nur begrenzt als geeignet erweist, soziale Strukturen zu konservieren oder aber zu verändern. Im Hinblick auf die Herausbildung moralischer und politischer Identität kann es enttäuschend sein, dass die Schule nicht in der Lage ist, flächendeckend für Loyalität und Gemeinsinn zu sorgen. Relativierend ist darauf hinzuweisen, dass Unterstellungen von Normalität diffus oder illusionär sein können. Von daher ist bei Enttäuschungen zunächst zu fragen, auf welche Funktionen sie sich genau beziehen, damit in einem zweiten Schritt geprüft werden kann, ob sich der Eindruck des Versagens substantiieren lässt.
Neben dem Begriff der »Failing School« sind noch andere Begriffe im Umlauf, die darauf verweisen, dass es bei der Differenz zwischen den Erwartungen an Bildungsorganisationen und deren tatsächlicher Performanz um ein vielschichtiges Problem geht. Die Termini »schools in difficulties« (Stoll & Myers, 1998) oder »troubled schools« (Smith, 2012) stellen insofern Oberbegriffe dar, als die angesprochenen Schwierigkeiten sowohl durch äußere Umstände als auch durch interne Faktoren bedingt sein können. Ebenso kann sich der Terminus »struggling schools« (Barber, 1995; Stephens, 2010; Turner, 1998) auf den Kampf gegen äußere Widerstände wie auf interne Konflikte beziehen – wobei die Verwicklung in Konflikte nicht mit dem Scheitern gleichgesetzt werden darf. Wenn von »schools in challenging circumstances« (Levin, 2007; Reynolds et al., 2006) die Rede ist, dann liegt der Akzent auf den Rahmenbedingungen, wobei ebenfalls offen ist, ob die Schulen die Herausforderungen bewältigen oder nicht, wiewohl negative Kontextfaktoren das Risiko des Scheiterns deutlich vergrößern. Mit den Termini »low performing schools« (Leithwood, Harris & Strauss, 2010; Mintrop, 2003) oder »underperforming schools« (McDermott & McDermott, 2009; van de Grift & Houtveen, 2007) wird hingegen der anhand von Testresultaten gemessene Output in den Vordergrund gestellt: In diesem Sinne sind mangelhafte Schülerleistungen das Hauptproblem. David Hopkins (2007, S. 151) macht den Vorschlag, drei Defizitstufen zu unterscheiden: Demnach sind »underperforming schools« dadurch gekennzeichnet, dass es an wirksamen Fördermaßnahmen für schwächere Schülerinnen und Schüler mangelt, während »low attaining schools« von gravierenderen Mängeln im pädagogischen Bereich geprägt sind, die etwa durch Beratung und Coaching anzugehen sind. Gleichwohl bestehe hier ein Potenzial für die selbstgesteuerte Schulentwicklung, während »failing schools« gravierende Leistungsdefizite aufweisen und zugleich unter Führungsproblemen leiden, die es nahezu unmöglich machen, eine selbstgesteuerte Erneuerung in Gang zu setzen.
Murphy & Meyers (2007) schlagen vor, die Problemgeschichte von »Failing Schools« aus dem Zusammenspiel externer und interner Faktoren zu erklären. Bei den externen Faktoren sind demnach Armut und soziale Segregation als Ursachen hervorzuheben, die außerhalb der Reichweite pädagogischen und schulorganisatorischen Handelns liegen. Bei den internen Faktoren spielen fehlende professionelle Kompetenzen bei Lehr- und Leitungspersonen, die Arbeitsmoral und auch der Teamgeist eine wichtige Rolle: Es kann demnach sein, dass die schlechten Rahmenbedingungen ein Klima der Hoffnungslosigkeit erzeugen – gleichwohl handelt es sich beim Klima um eine Größe, die dem Zugriff der Akteure nicht entzogen ist.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass schlechte Resultate bei Leistungstests häufig mit negativen sozialen Kontextfaktoren einhergehen, ist es aus Sicht der OECD sinnvoll, von »low performing disadvantaged schools« zu reden (OECD, 2012, S. 103ff.). Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Milieus sind stärker gefährdet, bei Tests schlecht abzuschneiden; Schulen in benachteiligten Quartieren sind stärker von Mobbing und Gewaltkriminalität betroffen: Dies wirkt sich negativ auf das Schulklima und das Commitment von Lehr- und Leitungspersonen aus, was wiederum negativ das Selbstbild von Schülerinnen und Schülern beeinflussen kann, sodass eine negative Spirale in Gang kommt. »Failing Schools« zeichnen sich demnach durch schwache Testresultate, mangelhaftes Führungsverhalten, fehlende Stabilität in der pädagogischen Beziehung und ein schlechtes Schulklima aus.
Ein entscheidender Punkt bleibt gleichwohl, dass Schulen trotz schlechter Rahmenbedingungen ausgezeichnete Arbeit leisten können, wie sich an zahlreichen Beispielen zeigen lässt. Ein zweiter wichtiger Punkt ist hinzuzusetzen: Es kann sein, dass Schulen unter komfortablen Rahmenbedingungen im Hinblick auf Schülerleistungen, Unterrichtsqualität oder Führungsverhalten deutlich hinter Vergleichswerten zurückbleiben. Vor diesem Hintergrund schlagen wir als Minimaldefinition für »Failing Schools« vor, dass es sich um Schulen handelt, die bei gravierenden Problemen nicht in der Lage sind, selbst eine angemessene Diagnose zu stellen und adäquate Lösungsstrategien zu entwickeln. Mithin sind immer zwei Aspekte zu berücksichtigen: Der eine betrifft das Auftreten von Störungen oder Misserfolgen, der andere die Fähigkeit, diese Probleme innerhalb des Systems wahrzunehmen und zu bearbeiten.
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