Gegen zwei Uhr legte sich die Aufregung. Nun gelang es dem Präsidenten endlich heimzukommen. Er fühlte sich wie gerädert. Es gehörte eine Herkulesnatur dazu, solch einem Enthusiasmus gewachsen zu sein. Die Menge auf den Straßen verlief sich allmählich. Die vier Eisenbahnen, welche in Baltimore zusammentreffen und aus Ohio, Susquehanna, Philadelphia und Washington kommen, führten das auswärtige Publikum an die vier Ausgangspunkte zurück, und die Stadt kam wieder in einen verhältnismäßig beruhigten Zustand.
Übrigens wäre es ein Irrtum zu glauben, dass an diesem Abend nur in Baltimore solche Aufregung geherrscht habe. Die großen Städte der Union: New York, Boston, Albany, Washington, Richmond, Crescent-City[7], Charleston, Mobile, von Texas bis Massachusetts, von Michigan bis Florida, nahmen alle an der ausufernden Begeisterung teil. Die dreißigtausend Mitglieder des Gun-Clubs kannten ja den Brief ihres Präsidenten und warteten mit gleicher Ungeduld auf die merkwürdige Mitteilung des 5. Oktobers. Sowie daher die Worte des Redners dessen Lippen entströmt waren, wurden sie noch am selben Abend mit einer Geschwindigkeit von 248.447 (engl.) Meilen[8] pro Sekunde durch die Telegrafendrähte aller Staaten der Union gejagt.
Man kann also ganz bestimmt sagen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, welche zehnmal so groß wie Frankreich sind, im selben Augenblick in einem einzigen Aufschrei zusammenstimmten und dass 25 Millionen Herzen, von Stolz geschwellt, denselben Pulsschlag fühlten.
Am folgenden Morgen machten 1.500 Journale, Tag- und Wochenblätter, monatlich und zweimonatlich erscheinende Zeitschriften, diese Angelegenheit zum Thema. Sie prüften es unter den verschiedensten Gesichtspunkten, dem physischen, meteorologischen, ökonomischen oder moralischen, vom politischen Standpunkt aus und auch aus der Sicht der Zivilisation. Man fragte, ob denn der Mond ein fertiger Planet oder ob er noch im Prozess der Entstehung sei. Glich er der Erde zu der Epoche, da dieselbe noch keine Atmosphäre hatte? Welchen Anblick würde seine unsichtbare, also die unserer Erdkugel abgewandte Seite offenbaren? Obwohl es sich nur erst darum handelte, eine Kugel dorthin zu schleudern, sahen doch alle, dass eine Reihe von Untersuchungen zu diesem Punkt im Vordergrund standen. Alle gaben sich der Hoffnung hin, Amerika werde in die tief verhüllten Geheimnisse dieses mysteriösen Trabanten dringen. Manche schienen jedoch zu befürchten, dass seine Eroberung das europäische Gleichgewicht auffallend würde stören können.
Nachdem das Projekt besprochen war, setzte kein einziges Blatt seine Ausführbarkeit in Zweifel. Die von den gelehrten, wissenschaftlichen oder religiösen Gesellschaften herausgegebenen periodischen Blätter, Broschüren, Bulletins, Magazine unterstrichen seine Vorteile, und die Gesellschaft für Naturgeschichte‹ in Boston, die ›Amerikanische Gesellschaft der Wissenschaften und Künste‹ in Albany, die Geographische und Statistische Gesellschaft in New York, die ›Amerikanische Philosophische Gesellschaft‹ in Philadelphia, das ›Smithsonsche Institut‹ in Washington, alle sendeten dem Gun-Club in tausenden von Zuschriften Glückwünsche und boten Geld und ihre Dienste an.
Darum, kann man mit Bestimmtheit versichern, gab es auch nie einen Vorschlag, der so viele Anhänger fand. Von Zweifeln, Bedenken, Besorgnissen war gar keine Rede. In Europa, vor allem in Frankreich, hätte wohl die Idee, ein Geschoss bis zum Mond zu schleudern, Scherzreden, Karikaturen, Spottlieder hervorgerufen: So etwas hätte sich jemand nicht einfallen lassen dürfen. Kein ›Lebenssicherer‹[9] auf der Welt hätte gegen die allgemeine Entrüstung geschützt. In der Neuen Welt gibt es Dinge, worüber nicht mehr gelacht wird.
Impey Barbicane wurde daher von jenem Tag an zu den größten Bürgern der Vereinigten Staaten gezählt. Er galt fast soviel wie ein Washington der Wissenschaft.
Einer von vielen Vorfällen zeigt stellvertretend, bis zu welchem Grad die Hingebung eines Volkes an einen Mann plötzlich gestiegen war:
Einige Tage nach der famosen Sitzung des Gun-Clubs kündigte der Direktor einer englischen Theatergruppe, die gerade in Baltimore gastierte, das Shakes-pearesche ›Viel Lärmen um Nichts‹ an. Da das Stadtvolk darin eine verletzende Anspielung auf die Projekte Barbicanes sah, drang es in den Theatersaal ein, zertrümmerte die Bänke und nötigte den unglücklichen Direktor seinen Spielplan zu ändern. Als gescheiter Mann beugte sich der Direktor dem Volkswillen, setzte an die Stelle des leidigen Stücks ein anderes vom selben Dichter, nämlich: ›Was ihr wollt‹, und erzielte daraufhin für viele Wochen unglaublich hohe Einnahmen.
VIERTES KAPITEL
Gutachten des Observatoriums von Cambridge
I
nzwischen verlor Barbicane – inmitten der Huldigungen, die ihm zuteil wurden – keine Zeit. Vor allem ließ er sich die Bureaux des Gun-Clubs zu einer Beratung versammeln. Man beschloss zunächst, über die astronomische Seite des Unternehmens die Himmelsforscher zu befragen, sich sodann auf der Grundlage eines Gutachtens derselben über die technischen Mittel zu verständigen, um nichts zu versäumen, was den Erfolg des großen Versuchs garantieren könne.
Daher wurde ein klar und inhaltlich detailliert abgefasstes Schreiben mit speziellen Fragen formuliert und an das Observatorium nach Cambridge in Massachusetts abgesendet. Der Sitz dieser ersten Universität der Vereinigten Staaten ist durch sein astronomisches Institut sehr bekannt. Dort finden sich die verdienstvollsten Gelehrten und das weit reichende Teleskop, mit dessen Hilfe Bond das Nebelgestirn Andromeda durchdrang und Clarke den Trabanten des Sirius entdeckte. Das Vertrauen des Gun-Clubs zu diesem Institut war also in jeder Hinsicht gerechtfertigt.
Zwei Tage später traf beim Präsidenten Barbicane die so ungeduldig erwartete Antwort, die folgenden Wortlaut hatte, ein:
Der Direktor des Observatoriums von Cambridge an den Präsidenten des Gun-Clubs in Baltimore.
Cambridge, 7. Oktober.
»Nach dem Empfang Ihres geehrten, unter dem 6.d. Monats im Namen der Mitglieder des Gun-Clubs in Baltimore an das Observatorium in Cambridge gerichteten Schreibens hat sich unser Bureau unverzüglich versammelt und folgende Antworten für angemessen erachtet:
Die ihm vorgelegten Fragen sind:
1. Ist es möglich, ein Wurfgeschoss auf den Mond zu schleudern?
2. Wie groß ist die exakt berechnete Entfernung der Erde zu ihrem Trabanten?
3. Binnen welcher Zeit hätte das Geschoss bei einer hinreichenden Anfangsgeschwindigkeit diese Distanz zu überwinden, folglich: zu welchem Zeitpunkt müsste man es abschießen, damit es in einem vorher festgelegten Moment auf dem Mond aufprallen würde?
4. Zu welchem Zeitpunkt wird sich der Mond in der günstigsten Position befinden, damit er von dem Geschoss auch getroffen wird?
5. Auf welchen Fixpunkt am Himmel wird das Geschütz, mit dem das Projektil abgeschossen werden soll, auszurichten sein?
6. An welcher Stelle am Himmel wird sich der Mond befinden, wenn das Geschoss auf den Weg gebracht wird?
Die Antwort auf die erste Frage lautet:
Ja, es ist möglich ein Projektil auf den Mond zu schleudern, wenn es gelingt, demselben eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Sekunde zu geben. Nach exakter Berechnung reicht diese Geschwindigkeit aus. Je weiter man sich von der Erde entfernt, desto mehr nimmt die Schwerkraft im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat der Entfernung ab; z. B. braucht man für eine dreimal größere Entfernung eine neunmal geringere Kraft. Folglich wird die Schwere des Geschosses drastisch abnehmen und schließlich in dem Augenblick völlig schwerelos sein, in dem die Anziehungskraft der Erde von der des Mondes aufgewogen wird, d. h., bei Siebenundvierzig-Zweiundfünfzigstel der Entfernungslinie. Ab diesem Moment wird das Projektil keine Schwerkraft mehr haben. Beim Weiterflug wirkt die Anziehungskraft