Die Knochennäherin. Martin Arz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940839473
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      Jahre später

      »Sehen Sie, Frau Staubwasser«, sagte Maximilian Pfeffer und dehnte seinen linken Arm, während er mit der rechten Hand seinen piepsenden Piepser vom Gürtel nahm und auf das Display schaute. Das Armstrecken tat gut, er spürte einen leichten Muskelkater im Trizeps. In den letzten Wochen hatte er das Hanteltraining schleifen lassen. Warum, wusste er selbst nicht genau, denn er mochte seine Trizeps, seine Lieblingsmuskeln, auf deren perfekte Definition er sonst genau achtete. Nicht der prollige Bizeps, den die meisten Männer hingebungsvoll aufpumpten – in Pfeffers Augen weit überschätzt. Einen schönen, gut modellierten Arm machte der Trizeps aus. Wie ein kleines Mäuslein huschte der Strecker unter der Haut und machte der Herkunft des Wortes Muskel nach Pfeffers Ansicht am meisten Ehre. Mus, die Maus, musculus, das Mäuschen – so viel wusste er noch aus dem Lateinunterricht. Gestern war ihm die Vernachlässigung aufgefallen, und dann hatte er es übertrieben. Pfeffer genoss das Ziehen im Muskel, ein angenehm kleiner Schmerz, der Lebendigkeit signalisierte.

      »Sehen Sie«, fuhr er dann fort und hielt den Piepser hoch, »genau aus diesem Grund kann ich nicht am Schreibtisch bleiben und das tun, was ein Mann in meiner Position tun sollte, wie Sie es durchaus richtig ausdrücken. Ich muss Bereitschaftsdienst machen und mit den Kollegen vor Ort ermitteln, weil es einfach zu wenig Kollegen gibt!«

      »Kollege Pfeffer.« Die Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser lächelte. »Wir wissen beide nur zu genau, dass Sie auch zu Zeiten, in denen wir personell besser aufgestellt waren, immer wieder Ermittlungsarbeit gemacht haben, die Sie rangniederen Kollegen hätten überlassen können.«

      Pfeffer streckte möglichst unauffällig auch den rechten Arm. Der wohlige Schmerz im Trizeps ließ ihn für einen Sekundenbruchteil die Augen genussvoll schließen. »Ich sage nur, dass wir völlig unterbesetzt sind. Wir haben momentan drei ungeklärte Todesfälle. Und wenn ich mich nicht täusche, kam eben ein vierter herein.« Er hob den Piepser. »Man braucht mich. Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment. Darf ich?« Er beugte sich vor, um das Telefon vom Schreibtisch seiner Vorgesetzten zu angeln.

      Jutta Staubwassers Nicken genehmigte das Telefonat. Während Max Pfeffer sein Gespräch führte, beobachtete sie ihn. Keine Frage, sie schätzte ihn als einen ihrer fähigsten Mitarbeiter. Auch wenn sie ihn einfach nicht von der Straße bringen konnte. Als Kriminalrat sollte Max Pfeffer in ihren Augen die Ermittlungen vor Ort den Kommissaren überlassen. Schon oft hatten sie darüber gesprochen. Er hielt sich nicht daran. Immer fand er eine Ausrede, warum er am Tatort sein musste, warum er Verhöre führen musste

      – kurz, warum er nicht am Schreibtisch sitzen konnte.

      In der gegenwärtigen Situation brachte er sie allerdings in die Defensive. Er hatte recht: Sie waren absolut unterbesetzt. Seitdem Pfeffers bester Mitarbeiter Kriminalhauptkommissar Paul Freudensprung zum LKA gewechselt hatte und aufgrund der Pensionierung eines anderen Kollegen waren zwei Stellen vorübergehend unbesetzt. Dazu noch mehrere Krankenstände. Es gab keinen Zweifel für Jutta Staubwasser, dass Pfeffer beim nächsten Fall wieder auf der Straße unterwegs sein würde. Er war ein Spürhund, kein Aktenhengst. Außerdem war er bei den meisten Kollegen beliebt und ein guter Chef. Kein eitler Karrierist wie manch anderer. Einer, der zu seinen Leuten stand und sich im Zweifelsfall nie scheute, eigene Fehler zuzugeben. Außerdem neigte er beizeiten zu unorthodoxen Methoden und schrägen Denkweisen, was sie schätzte. Und sie mochte seinen Humor.

      Dass er dazu auch noch gut aussah, zumindest in den Augen zahlloser Kolleginnen, konnte Jutta Staubwasser zwar im objektiven, aber nicht im subjektiven Sinn bestätigen. Er war nicht ihr Typ – abgesehen davon, dass er nicht besonders hochgewachsen war. Sie bewertete Menschen sowieso nicht nur nach Äußerlichkeiten und hatte sich einst ihren Ehemann auch nicht wegen seiner Optik ausgesucht. Jutta Staubwasser war so erzogen worden, dass Männer und äußere Attraktivität nicht zwingend etwas gemein hatten. Sie hatte wirklich kein Auge für schlanke, durchtrainierte Männer in den besten Jahren wie Pfeffer. Sie stand auch nicht auf seine grauen Haare, die ihm ein so undefinierbar altersloses Aussehen gaben, weil sie in interessantem Kontrast zu seinem faltenfreien Gesicht mit dem markanten Kinn standen.

      Ebenfalls war es ihr herzlich egal, ob man auf seinen Po Nüsse knacken konnte, was neulich ein paar Kolleginnen vermuteten. Nicht wirklich Kolleginnen, es waren drei Sekretärinnen gewesen, in der Essensausgabeschlange in der Kantine vor Jutta Staubwasser. Sie hatten Maximilian Pfeffer beobachtet, der sich bückte, weil sein Messer vom Tablett gerutscht war. »Da kannste Walnüsse drauf knacken«, hatte die eine mit einem gutturalen Gurren gesagt, was keinen Zweifel daran ließ, dass sie das am liebsten sofort in die Tat umgesetzt hätte. Die anderen hatten sich nur mit weit aufgerissenen Augen angeschaut und dann wie Schulmädchen losgekichert. Eine hatte noch halblaut »Zwanzig Euro, wenn du dich traust« geflüstert und einen Heiterkeitssturm heraufbeschworen, der sich noch nicht gelegt hatte, als die Gruppe an der Kasse zahlte. ›Erwachsene Frauen!‹, war es Jutta Staubwasser damals durch den Kopf geschossen, und sie hatte missbilligend den Kopf geschüttelt.

      Mein Gott, Pfeffer war vierzig! Vierzig! Da durfte ein Mannsbild in ihren Augen ruhig ein bisschen angesetzt haben. Ein wenig Wohlstandsspeck, ein kleiner Rettungsring, ein wenig zum Festhalten, zum Kuscheln, zum Nicht-immer-starke-Frau-sein-Müssen. »Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel.« Sie kannte den Spruch nur zu gut, und er traf auf ihren eigenen Mann keinesfalls zu. Der war wahrlich kein Krüppel und exakt zehn Jahre älter als Pfeffer. Vierzig! Männer wie Pfeffer, die physiognomisch noch wie Mittzwanziger daherkamen, erinnerten sie zu sehr an ihre eigenen körperlichen Defizite, die sich mit zunehmendem Alter einstellten. Sie war nur sieben Jahre älter als ihr Kollege und fühlte sich in seiner Gegenwart so unendlich viel älter. Nein, für Jutta Staubwasser stand auch bei näherem Hinsehen fest, dass Maximilian Pfeffer zwar gut aussah, besonders wenn, wie heute, auch noch ein leichter Bartschatten das markante Kinn betonte, aber eben nicht attraktiv für sie war.

      Nur bei Pfeffers Augen – da kam sie bisweilen ernsthaft ins Schwanken. Wie konnte so ein Mann nur so sehnsuchtsvoll-sanfte Augen haben! Sie sah schnell weg. Pfeffer beendete sein Telefonat.

      »Und?«, fragte sie.

      »Ein Skelettfund in Zacherlkirchen.« Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt werden Sie sagen: Das lassen Sie mal Ihre Kollegen machen. Dann werde ich sagen: Außer Kollegin Scholz habe ich momentan niemanden für einen neuen Job. Und alleine kann ich die Gute nicht nach Zacherlkirchen lassen. Dann gibt ein Wort das andere und dann …« Er beendete den Satz nicht, sondern sah sie mit fragend hochgezogener Augenbraue an. Keine Frage, auch er mochte seine Chefin.

      Kriminaldirektorin Staubwasser schmunzelte und hob spielerisch drohend den Zeigefinger. »Dann werden Sie ohnehin nicht auf mich hören und schnurstracks nach Zacherlkirchen fahren. Hören Sie, ich verspreche Ihnen, dass wir die Personalsituation in den nächsten Wochen in den Griff bekommen. Die Krankschreibungen … Ich kämpfe auch für neue Planstellen. So wie es aussieht, wird eine der freien Stellen tatsächlich nicht mehr besetzt. Der momentane Sparkurs triff leider alle. Auch uns.«

      »Schon gut«, winkte Pfeffer ab und stand auf. Dabei merkte er, dass er auch in den hinteren Oberschenkeln Muskelkater hatte. Wo der nur herkam? Er joggte jeden Tag fast eine Stunde, daran dürfte es kaum liegen. Dann fiel ihm wieder ein, was er gestern Nacht noch gemacht hatte, und er biss sich innen auf die Wangen, um ein Grinsen zu unterdrücken. Der Biss nutzte nicht viel.

      03

      »Verrecken sollst du«, murmelte die Mutter mit abgewandtem Kopf mehr vor sich hin als zu jemandem. Sie redete gerade so laut, dass die Tochter sie hören konnte – die Tochter, die zu ihren Füßen in gekrümmter Hocke kauerte und sich schwer atmend an ihren Rockzipfeln festkrallte.

      »Was?« Die junge Frau hob den Kopf und versuchte mit tränenverschleierten Augen, den Blick der Mutter zu erhaschen. Doch die schwergewichtige Frau starrte unvermindert ins Nichts.

      »Was?!«, wiederholte die Tochter deshalb lauter, und ihre Stimme überschlug sich, bevor sie in einem Schluchzen erstarb. »Mutter, ich … verrecken?«

      »Nichts habe ich gesagt«, antwortete die ältere Frau ungerührt und verschränkte die Arme vor ihrer schweren Brust. Ihr Gesicht blieb eine teilnahmslose Maske.