Die Knochennäherin. Martin Arz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940839473
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Sie drehte sich um und versuchte, durch die Bäume zu spähen, die den Blick auf den weiten Horizont gegenüber der Bucht verdeckten. Ganz weit hinten vermeinte sie das Glitzern des Wassers zu erkennen. Erneut richtete sie die Kamera auf den Mann, der vermutlich Fritz war, und drückte auf den »Record«-Knopf. Sie wollte es festhalten: Er am endlosen Strand ohne Wasser. Wie bizarr. Es würde ihm gefallen, wenn er später den Film sah.

      Dann hörte sie es. Die Stille fand urplötzlich ein Ende. Ein dumpfes Grollen rollte aus der Ferne heran. Es steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, eskalierte zu einem tosenden Crescendo. Nives sah vom Kameradisplay auf und blickte sich um. Für einen Moment fürchtete sie ein Erdbeben, doch der Hüttenbungalow stand still. Sie drehte den Kopf, als zwei dünnere Bäume krachend gegen die Brüstung ihrer Terrasse geschleudert wurden. Die Palmen und die größeren Bäume bogen sich bedrohlich, Zweige berührten den Holzboden der Terrasse.

      Das Meer kam zurück.

      Die Gischt spritzte zwischen den Holzbohlen des Terrassenbodens zu ihr hinauf, als sich das Wasser an den Felsen unter der Hütte rieb. Die Pfahlkonstruktion erhielt einen Stoß, der Nives schwanken ließ.

      Eine gigantische Welle schob sich in die Bucht. Nives starrte in das Display der Videokamera und sah den Mann, der wohl Fritz war, in schäumendem Wasser verschwinden. Die Monsterwelle peitschte über den Strand, fraß sich in die beiden benachbarten Strandhotels und spülte über die Straße, bis sie an dem Hügel dahinter brach. Für einen kurzen Moment stoppte die Bewegung, die Oberfläche schien stillzustehen. Dann begann die Gegenbewegung. Das Wasser strömte zurück und riss alles mit sich, was nicht fest verankert war.

      Nives stand breitbeinig da, hielt sich mit der Linken am Geländer fest und blieb mit dem rechten Zeigefinger wie festbetoniert auf dem Auslöser. Autos, Möbel, Bäume, Menschen – der Wassersog in ihrem Display nahm sich alles. Sie sah nur das Geschehen im kleinen Monitor, es hätte ein Film sein können, die Realität um sie herum schien so unendlich weit entfernt.

      Erst als das Wasser komplett zurückgegangen war, hörte sie auf zu filmen. Sie ließ die Kamera sinken und stand da, unfähig zu begreifen, was eben passiert war. Langsam gaben ihre Knie nach. Sie sackte zusammen und stierte zwischen die Bohlen unter ihr. Sie erkannte die Fundamente der Bentonsäulen, auf denen der Bungalow ruhte. Sie erkannte das Bootswrack, das sich um einen der Pfeiler gewickelt hatte, sie erkannte die Plastik-und Stoffplanen, die sich zwischen dem abgerissenen Bäumen verfangen hatten, die zertrümmerten Strandliegen aus Holz oder Metall, und sie erkannte den leblosen Körper eines kleinen blonden Mädchens, die mit weit aufgerissenen Augen und seltsam verdrehten Kopf direkt unter ihren Füßen auf dem Felsen lag.

      Nives öffnete den Mund, um zu schreien. Doch ihr Schrei blieb tonlos.

      Das erneute Krachen, das Splittern von Holz riss sie aus ihrer Starre. Gerade noch rechtzeitig, um mühsam ihren Leib hochzustemmen und einer Palme auszuweichen, die von der zweiten gewaltigen Welle gegen die Terrassenbrüstung gedrückt wurde. Die Hütte erbebte, die Holzbrüstung splitterte.

      Was, wenn die ganze Terrassenkonstruktion nachgab? Was, wenn der ganze Bungalow nachgab? Schließlich waren die Hütten nur Pfahlbauten, die sich an den Steilhang der Halbinsel kuschelten. Nives versuchte zur Tür zu hechten, doch ihr ungeheures Körpergewicht sorgte dafür, dass es ein Versuch blieb. Sie fiel der Länge nach hin. So schnell sie konnte, rappelte sie sich auf und krabbelte zur Tür. Sie erreichte die Tür in dem Moment, als das Tosen auch schon wieder aufhörte. Nives drehte sich um und sah, wie die zweite Welle über den Strand fegte. Da das Gehölz vor ihrer Terrasse nun gelichtet war, konnte Nives die ganze Bucht überblicken. Die Straße, die hinter den benachbarten Strandhotels hervorkam und als eine Art Strandpromenade den Sand von den Hotelkomplexen am Fuß der Hügelkette trennte, konnte sie nicht mehr ausmachen. Gurgelnde Strudel bohrten sich zwischen die Häuser. Wieder gab es einen ungeheuren Sog, als sich das Wasser zurückzog. Autos, Möbel, Bäume, Menschen, Boote, ganze Hütten schossen auf das offene Meer hinaus.

      Fritz!, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte sie ihn wirklich am Strand gesehen? Für einen Moment wünschte sie sich, dass er es gewesen war. Dann wäre er nun mit Sicherheit tot oder zumindest schwer verletzt. Keine der beiden Möglichkeiten erschreckte sie, wie sie feststellen musste. Im Gegenteil. Es würde vieles lösen und sie erlösen. Nives lächelte versonnen. Raus aus seinem Kosmos. Endgültig.

      Die dritte, vergleichsweise harmlose Welle, die das Zerstörungswerk der Natur vollendete, riss sie aus ihren Gedanken. Nives bemerkte nun, dass die Klimaanlage nicht mehr funktionierte. Die Luft in der Hütte begann allmählich stickig und feucht zu dampfen. Nives entknotete das Badetuch und entwickelte eine hektische Betriebsamkeit, um ihre Panik herunterzuspielen. Sie schlüpfte schnell in ihren Badeanzug und wickelte sich das bunte Batiktuch, das sie erst vorgestern auf dem Nachtmarkt in Patong gekauft hatte, um die Hüften. Zuletzt setzte sie den Sonnenhut aus Stroh auf. Sie musste etwas tun, da draußen war eben das Unglaublichste passiert, das Schlimmste, Grauenhafteste … Etwas, wofür sie keine Worte fand und das sie nicht begreifen konnte.

      Nives ließ sich schwer auf das Bett plumpsen und starrte ins Leere. Sie konnte nichts tun. Ob Fritz tot war, schien ihr plötzlich völlig unwichtig. Wie lange sie dasaß, wusste sie nicht. Es passierte häufiger, dass sie einfach so dasaß und vor sich hinstarrte.

      Eine Stimme riss sie aus der Lethargie.

      »Mann, hast du diesen Wahnsinn mitbekommen?!«

      Fritz.

      Er stand vor ihr, wie sie ihn vermeinte, am Strand gesehen zu haben: ein kleiner, untersetzter, stark behaarter Mann mit blauer Badehose und ungepflegtem Fusselbart. Nives’ Herz machte einen kleinen Hüpfer, ob vor Freude oder Enttäuschung, konnte sie nicht sagen.

      »Die sagen, das war ein Tsunami. So eine Monsterwelle. Wusch, alles mitgenommen, das Scheißding!«

      »Du … ich dachte, du …«, stammelte Nives tonlos.

      »Was? Keine Sorge, mir ist nichts passiert.« Fritz kam zu ihr ans Bett, beugte sich hinunter und gab ihr einen Kuss auf den Mund. »Mich bringt so leicht nichts um.«

      »Aber ich habe diesen Mann am Strand gesehen und gefilmt, der aussah wie du und dann die Welle …«

      »Ich war gerade auf dem Weg nach oben, weißt schon, mitten auf der Holztreppe, die vom Strand zu den Hütten hochführt. Was für ein Wahnsinn! Ein Tsunami! Wow.« Fritz setzte sich neben sie aufs Bett. »Hey, ich könnte tatsächlich tot sein. Die Treppe hat es halb weggerissen.« Er grinste, als hätte er eine sensationelle Entdeckung gemacht. Dann sprang er auf. »Du hast den Tsunami gefilmt? Lass mich sehen.« Er schnappte sich aufgeregt die alte Kamera und sah sich ihre Aufnahme an. »Wow. Der sieht wirklich fast aus wie ich. Wahnsinn, das Wasser!«

      Sie hasste es, wenn er »wow« sagte, als wären sie noch Teenager. Ein Mann, der bald sechzig wurde und wow – lächerlich. Ebenso lächerlich fand sie, dass er, nachdem er sein Double auf dem kleinen Display im Inferno verschwinden gesehen hatte, sofort mit ihr schlafen wollte.

      Das tote Mädchen! Nives schreckte vom Bett hoch. Und was, wenn noch mehr Wellen kämen, Wellen, die am Ende ihre Hütte mitreißen würden? Sie rappelte sich auf und ging auf die Terrasse. Vorsichtig spähte sie zwischen den Lücken im Holzboden hinunter. Sie sah jede Menge Schrott, Holz, Planen, Kanister und Kleidung – aber kein Mädchen. Auch keine andere Leiche. Schnell richtete sie sich wieder auf. Nur nicht zu genau hinsehen, am Ende würde sie doch etwas entdecken, was sie nicht entdecken wollte.

      Der Boden unter ihren Füßen knarrte, als sie das Gewicht verlagerte. Panik überkam sie. Nichts wie zurück ins sichere Zimmer.

      Der kleine Elefant stand regungslos und mutterseelenallein am Strand, als sei er eine Statue. Nur das Wedeln seiner Ohren verriet, dass das Tier noch lebte. Nives erkannte es. Ein alter Mann war mit dem Elefäntchen, dessen Rückenhöhe ihr gerade bis zur Schulter reichte, nachts durch die Lokale der Umgebung gezogen, Touristen konnten sich mit dem Tier fotografieren lassen, es mit Bananen füttern, streicheln, bedauern und versuchen, ihm die drahtigen Haare auf dem Kopf auszureißen, die auf den ersten Blick wie Flausch aussahen. Nun schenkte niemand dem Elefanten Beachtung. Dabei war das Tier rot, ziegelrot.

      Fritz