»Der Tote? Nein. Ich habe absolut keine Ahnung, Rocco. Mach dir darum keine Gedanken. Ich habe dir doch gesagt, dass es eine Sekundärbestattung war, also falls es ein Mord war, wurde er woanders begangen. Und außerdem soll das Skelett aus der Zeit sein, bevor wir hierhergezogen sind. Man vermutet sogar einen historischen Fund. Ein Germane.«
»Wenn schon, dann ein Kelte, Mama. Wir Bayern sind keine Germanen.«
»Wie auch immer. Gar kein Grund zur Sorge.«
»Trotzdem …«
»Rocco, bitte.«
»Okay, Mama. Ich esse jetzt was und dann geh ich noch rüber zu Schorsch.«
»Mach das.« Nives gab ihrem Sohn zum Abschied einen Klaps auf den Hintern. »Viel Spaß. Ich werde noch ein wenig arbeiten.«
»Lass aber die schweren Maschinen in Ruhe.« Rocco deutete auf den Rüttler und den Stampfer. »Nicht, dass sich irgendwelche Nachbarn bei den Bullen über Ruhestörung beklagen.«
»Es ist noch keine neunzehn Uhr«, entgegnete Nives. »Ich werde noch ein wenig den Untergrund für unsere neue Terrasse vorbereiten.«
»Lass mich das doch machen, Mama!«
»Nein, mir macht das Spaß. Ich werde eine halbe Stunde stampfen und dann ist gut. Mein Fitnessprogramm.«
Nachdem er im Haus verschwunden war, stand sie auf und ging über die aufgerissene Vorfläche zur ehemaligen Scheune. Bevor sie die Tür öffnen konnte, musste sie die beiden Sicherheitsschlösser aufschließen, dann noch das Schloss an der Glasschiebetür dahinter. Nives machte Licht und schritt schnell zur gegenüberliegenden Wand. Wenn sie nicht innerhalb von dreißig Sekunden die Alarmanlage deaktivierte, würde der Alarm ausgelöst werden. Nachdem sie das erledigt hatte, schloss sie die Holztüren der Scheune von innen. Zwar war ihr Grundstück uneinsehbar und schwer über einen anderen Weg als die vordere Toreinfahrt zu betreten, doch man wusste bekanntlich nie. Wenn man es darauf anlegte, konnte man auch mit einer Leiter über die Friedhofsmauer steigen, oder hinten über die Felder wandern und den Bach durchwaten. Alles schon mal da gewesen, als Nives noch ein Star war und zudringliche Verehrer alle erdenklichen Strapazen auf sich nahmen, um in ihrer Nähe zu sein. Da stand einer frühmorgens plötzlich nackt vor der erwachenden Nives im Schlafzimmer, überreichte ihr eine rote Rose und rannte dann davon. Am Tag darauf hatte sie die offene Grundstücksseite zum Bach hin mit einem hohen Zaun und einer dichten Ligusterhecke begrenzen lassen. Den Zaun ließ sie später, als sie in absoluter Vergessenheit vor aufdringlichen Verehrern sicher sein konnte, wegreißen. Die Ligusterhecke blieb, doch Nives besserte die sich jährlich verschlimmernden Hochwasserschäden nicht mehr aus. So hatte sie durch die Buschlücken wieder den herrlichen Ausblick auf die Landschaft.
Nives Marell betrachtete zufrieden ihre Arbeit der letzten Wochen. Dann ging sie zu der Ecke, in der mehrere zusammengeknotete Stoffbündel lagen. Sie nahm ein Bündel am Knoten hoch, trug es zu einem massiven, aber sehr niedrigen Holzklotz und platzierte es sauber mittig darauf. Dann nahm sie den schweren Vorschlaghammer, der neben dem Klotz lehnte. Sie stellte sich breitbeinig an den Klotz, so nah sie konnte, hob den Hammer mit beiden Armen über das Bündel, sodass der eiserne Hammerkopf einige Zentimeter darüber schwebte und ließ dann das Werkzeug heruntersausen. Dabei hielt sie den Stiel mit einer Hand gerade so weit fest, dass der Hammer nicht umkippte und ihr auf die Füße krachte. Ein stumpfes Knirschen kam aus dem Bündel. Sie hob den Vorschlaghammer wieder an und ließ ihn erneut herabsausen. Konzentriert wiederholte sie die Bewegung immer und immer wieder. Am Anfang hatte sie den Hammer über den Kopf gehoben, so wie sie es mit einer Axt beim Holzhacken machen würde. Doch schnell war klar geworden, dass sie dies bei dem Gewicht des Werkzeugs nicht lange durchhalten würde. Die Methode des Fallenlassens war zwar weniger effektiv, aber dafür konnte sie länger arbeiten. Als positiven Nebeneffekt stellte sie fest, dass sie durch die körperliche Arbeit schneller abnahm.
Konzentriert arbeitete sie zehn Minuten, bis sie schweißgebadet war. Erschöpft ließ sie den Vorschlaghammer fallen und setzte sich auf einen Schemel. Das letzte Bündel! Endlich. Nives Marell konnte es kaum noch erwarten. Gut, dass sie sich vom Bürgermeister, der im zivilen Leben eine Baufirma betrieb, den Rüttler und den Stampfer geliehen hatte. Jetzt müsste es ratzfatz gehen. Sie brauchte ganz kleine Brocken für den Schotter.
Der Bürgermeister selbst hatte ihr die Maschinen vorbeigebracht und die Funktion des Stampfers erklärt: »Der PowerPac PPS 60. Kannste gar nichts falsch machen, Schneck! Ist total zuverlässig. Das können die Japsen. Hat eine Schlagkraft von hundertfünf Kilonewton und eine Tiefenwirkung von siebzig Zentimetern.« Er machte eine Pause, um die beeindruckenden Zahlen wirken zu lassen.
Nives hätte am liebsten demonstrativ gegähnt, so egal waren ihr die Zahlen. Doch sie legte genau jenes bewundernde Glimmen in ihre Augen, das Männer von Frauen erwarten, wenn sie mit Pferdestärken, Gigabyte, Zentimetern oder eben Kilonewton protzten. Keine große Schauspielerei, die das Können einer Nives Marell forderte. Das bewundernde Glimmen bei gleichzeitigem, geistigem Einschlafen gehörte schließlich zum Standardrepertoire jeder Frau.
Der Bürgermeister reagierte wie erwartet. Er grinste zufrieden und fuhr fort: »Brauchste aber eigentlich gar nicht für den Terrassenboden, Schneck. Da reicht doch der Rüttler. Na, musst du wissen. Du, den Aushub für das Fundament machen dir meine Jungs morgen schnell. Brauchst nichts für zahlen, Schneck. Passt scho.«
Sie verstand. Doch ihr wie dem Bürgermeister war klar, dass dies nur ein kleiner Teil seiner Dankbarkeit für ihre Zustimmung zum Grabenziehen sein konnte.
Und so hatten seine Jungs die Erdbewegungen für die neue Terrasse gemacht. Nun wollte Nives Marell noch an diesem Abend mit dem Auffüllen und Feststampfen beginnen. Sie nahm das Stoffbündel, das sie mit dem Vorschlaghammer bearbeitet hatte, sowie weitere fünf ähnliche Bündel, die in einer Ecke lagen, und trug sie hinaus. Sie platzierte sie nebeneinander auf dem vorbereiteten Terrassenboden. Dann setzte sie die Lärmschutzkopfhörer auf und warf den Stampfer an. Der Viertaktmotor surrte wie eine Eins. Sie löste den kleinen Hebel am Griff und der Stampfer setzte sich hüpfend in Bewegung. Gut, dass der Bürgermeister mit ihr trainiert hatte, sonst hätte sie die Gewalt der Maschine nicht bändigen können. Sie führte den Stampfer langsam über die Bündel und wieder zurück, dann noch einmal hin und her, kreuz und quer. Nach fünf Minuten schaltete sie die Maschine ab, bückte sich und öffnete das eine Bündel probeweise. Höchst zufrieden mit dem Ergebnis öffnete sie alle anderen Bündel und schüttete den Inhalt aus, dabei achtete sie darauf, dass sie die kleinen Bröckchen großzügig verteilte. Nun nahm sie die Schaufel und schippte Kies darauf. Erneut warf sie den Stampfer an und ließ ihn über die Fläche hopsen. Es machte ihr Spaß, die Vibration durch ihren ganzen Körper hindurch zu spüren. Morgen Vormittag würde sie dann mit dem Rüttler das Fundament fertigstellen.
06
Als Maximilian Pfeffer das Haus betrat, war alles dunkel. Nur ein schwacher Lichtschimmer drang aus dem Wohnzimmer. Verwundert blieb er stehen und lauschte. Er machte im Flur Licht und zog sein Sakko aus, dann ging er im Dunkeln weiter ins Wohnzimmer. Eine Kerze brannte auf dem Couchtisch. Nun nahm Pfeffer die Umrisse eines Mannes wahr, der auf dem Sofa saß. Plötzlich setzte entspannte Musik ein, Pfeffer erkannte die melancholische Jazztrompete von Till Brönner und musste schmunzeln. Ein Vibrieren lag in der Luft, noch immer sagte niemand ein Wort. Schließlich stand der Mann vom Sofa auf und kam näher. Er trug einen Bademantel, den er nun öffnete und zu Boden fallen ließ. Darunter war er nackt.
»Florian ist bei Kevin und kommt nicht vor zehn Uhr zurück. Cosmo ist im Massive-Attack-Konzert und schläft dann bei Lilly«, sagte er.
Pfeffer musste grinsen. »Dann haben wir sturmfreie Bude?«
»Erraten, Superbulle. Du hast die Wahl zwischen den drei Hs: heiß, hart oder hemmungslos.«
»Wenn das so ist, dann nehme ich alle drei!«
»Wusste ich es doch!« Tim de Fries trat nahe an seinen Lebensgefährten Max Pfeffer heran. Mit seinen einsneunzig überragte er den eher durchschnittsgroßen Kriminaler um einiges. Im warmen Kerzenlicht funkelten seine Mandelaugen verheißungsvoll.