»Dann gehen wir einfach mal zu den Nachbarn. Und bitte, erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wer Nives Marell ist! So häufig ist der Name wohl nicht, Bella. Noch dazu, wo jetzt dein Hase mit ihr auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten.«
»Levent mit Nives Marell? Ach, die soll das sein?! Nives Marell. Klar, logisch. Dann hatte sie heute Proben am Theater. Müssten aber schon vorbei sein.« Annabella Scholz sah auf ihre Uhr. »Levent guckt sich momentan alle Fritz-Roloff-Filme an. Teilweise happige Kost. Ehrlich gesagt, kannte ich die Marell vorher gar nicht. Nie von der gehört.« Die Kommissarin war zu jung, um die Glanzzeit der Nives Marell erlebt zu haben. Sie machte auch keinen Hehl daraus, dass sie in manchen kulturellen Aspekten mit ihrem Lebensgefährten Levent Demir nicht mithalten konnte und wollte. Die als künstlerisch wertvoll gehandelten Filmemacher-Filme der Sechziger- und Siebzigerjahre langweilten sie bis ins Mark.
Ihr Freund Levent war ein bekannter TV-Star, der jahrelang mit seiner Action-Krimi-Serie ›Mörderischer Einsatz‹ Traumquoten erzielt hatte. Doch Levent Demir war auch ein Künstler, ein ernsthafter Schauspieler, der sein Handwerk an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule gelernt hatte und mit der Rolle des muskelbepackten Testosteronbullen, der erst schießt und dann denkt, mehr als unterfordert war. Er war unglaublich stolz, als er die Rolle des Kanaken in der Jubiläumsinszenierung von ›Kanakenbraut‹, dem berühmten Erstlingswerk von Fritz Roloff, bekommen hatte. Noch dazu am Residenztheater, einer der führenden Bühnen Deutschlands, in einer Inszenierung des Intendanten Hannes Wachsmuth. Ein Ritterschlag. Als absolutes Highlight dann auch noch die Tatsache, dass das Stück mit alten Weggefährten von Roloff realisiert wurde – allen voran der legendären Nives Marell. Levent schwebte seitdem auf Wolke sieben und haderte nicht einmal damit, dass er gut die Hälfte der Zeit seines Auftritts nackt sein musste. Er sah sich jeden Roloff- und jeden Marell-Film an, der im Fernsehen lief. In der Regel im Nachmitternachtprogramm.
Annabella schaute oft mit, meist total gelangweilt. Einmal rutschte ihr ein ›ödes Betroffenheitsgesumse aus den Siebzigern‹ raus, da wurde Levent richtig wütend und nannte sie ohne einen Funken Ironie einen »ignoranten Eisklotz aus den Zweitausendern«. Dabei hatte sie sich noch nicht einmal über die – ihrer Meinung nach – laienhafte Schauspielerei der Akteure und die stümperhaften Dialoge mokiert. Es kostete sie nach Ende des Films auf dem Sofa noch alle erdenkliche Mühe, ihm zu beweisen, dass sie kein Eisklotz war. Er grollte und widerstand erstaunlich lange, musste sich letztlich aber geschlagen geben. Wie sie ihn liebte, wenn er unter ihr lag und sich vergaß, während sie sich mit den Händen auf seiner breiten Brust abstützte und den Takt vorgab. Am folgenden Tag kaufte er eine DVD-Sammlung mit Roloff-Filmen, und sie sahen jeden Abend erst einen Film an und liebten sich dann auf dem Sofa. Roloff hatte glücklicherweise ein umfangreiches Werk hinterlassen.
»Fritz Roloff hat bestimmt ein Dutzend Filme mit Nives Marell gemacht. Sie war sein Star«, sagte Pfeffer, als sie zwischen Oleandern standen und sich umsahen.
Das Gebäude links von ihnen war einst ein Stall gewesen, nun diente es vermutlich als Garage, Abstellraum und Rumpelkammer. Das rechte Haus war früher wohl eine Kombination aus Scheune und angebautem Austragshäusl. Jetzt schien das Häusl als Gästehaus hergerichtet zu sein. In der Scheune, die durch mächtige Holztore verschlossen war, vermutete Pfeffer ein Schwimmbad. Neureiche tendierten dazu, in die Scheunen alter Höfe Pools einzubauen. Wahrscheinlich verbargen sich hinter den Holztoren bodentiefe Glasfenster. Vor den Toren war ein großes Rechteck flach in den Boden gegraben. Ein Sandhaufen, ein kleinerer Kieshaufen sowie säuberlich aufgestapelte Pflastersteine verrieten, dass hier eine neue Terrasse angelegt wurde. Neben den Pflastersteinen standen eine Rüttelmaschine sowie ein Stampfer.
Die beiden Kriminaler passierten den schmalen Durchgang zwischen Garage und Hauptgebäude und näherten sich über den gepflasterten Vorplatz dem Eingangstor. Das Tor war von den Kollegen aufgebrochen worden, damit die Spurensicherung nicht den ganzen Weg über die Wiesen nehmen musste.
Der Bauernhof, den die alternde Schauspielerin Nives Marell bewohnte, grenzte an den großen Dorfplatz, der sacht zu dem Hügel anstieg, an dessen Fuß der Kreuzweg begann und auf dem die Wallfahrtskirche stand. Um den Platz herum gab es vier Wirtshäuser, ebenso viele Cafés, drei große Hotels (alle in historischen Gebäuden) sowie zahllose Devotionalien- und Souvenirläden, in denen die Pilger ihr Geld loswerden konnten, nachdem sie beim Heiligen Zachäus von Palmyra oben in der Kirche ihre Gebete, und nicht selten ihre Wunschkataloge für ein besseres Leben, losgeworden waren. Die Häuser, die Richtung Kirche unmittelbar an den Marell-Hof grenzten, waren preisgünstige Massenherbergen für Pilger, die der Kirche gehörten, daneben das Gemeinde- und das Pfarrhaus. Schmuck renovierter Spätbarock.
Pfeffer fiel auf, dass das Anwesen der Diva, obwohl mitten im Ort gelegen, beinahe nicht einsehbar war. Vorne die Mauer mit der Einfahrt, auf der einen Seite die hohe Mauer des Nachbarhofs, auf der anderen Seite die fensterlose Rückwand der kirchlichen Herbergen, danach dann der Friedhof mit seiner ungewöhnlich hohen Mauer. Den Blick vom Hügel der Wallfahrtskirche versperrten wiederum die Herbergshäuser. Wer hier wohnte, konnte sich ganz zurückziehen und blieb vom Pilgertrubel unbehelligt. Wem nach Menschen war, musste nur nach draußen gehen, um mitten im Leben zu stehen. Vom Dorfplatz und damit vom Hof weg führte die Straße Richtung Ortsausfahrt. Mehrere historische Gehöfte zu beiden Seiten der Straße und dann, je näher man den Ortsschildern kam, die unvermeidlichen Bausünden der Fünfziger bis Siebziger sowie ein Neubaugebiet. Vor dem Ortschild die großen Parkplätze für die Busse, denn im Ort herrschte Lkw- und Busfahrverbot.
Ein paar Schaulustige hatten sich in gebührendem Abstand zum Marell-Hof versammelt und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, als sie die beiden Kriminalbeamten aus dem Eingangstor kommen sahen. Der Eingang, so fiel Pfeffer auf, wurde von zwei unauffällig angebrachten Videokameras überwacht.
»Guck mal, Fans«, sagte Bella Scholz. »Levent hat mir übrigens gesagt, dass sie unglaublich fett sein soll. Ich meine, in ihren Filmen ist sie ja eh üppig beieinander, aber die soll nun richtig eff e te te sein.«
»Hab ich auch gelesen.«
»Du kennst dich aber aus.«
»Stand neulich irgendwo.«
»Beim Friseur?«
»Bestimmt.«
»Aber sie muss immer noch unglaublich gut spielen.«
»Das hat bekanntlich nichts mit dem Gewicht zu tun.«
Sie standen vor dem Nachbargehöft, einem lindgrün gestrichenen Spätbarockgebäude. Die Einfahrt mit Rundbogen aus Kalkstein, in den an der höchsten Stelle ›1784‹ gemeißelt war, wurde von einem schweren Holztor verschlossen. Pfeffer drückte den Klingelknopf, an dem kein Name stand. Es tat sich nichts. Er klingelte mehrfach. Keine Reaktion im Haus. Er war sich aber sicher, dass er eine Bewegung hinter einem Fenster im ersten Stock ausgemacht hatte.
»Dann müssen wir wohl morgen wiederkommen. Hast du Lust auf einen Eiskaffee?« Er deutete hinüber zu den Cafés am Dorfplatz. Trotz der einsetzenden Dämmerung herrschte reger Betrieb auf den Terrassen. »Ich lad dich ein.«
05
Sie hatten also ein Skelett gefunden. Das machte nichts. Sie atmete tief ein und aus. Kein Grund zur Panik.
Ein Skelett. In ihrem Garten. Nun denn.
Sie starrte hinüber zu der abgesperrten Fläche. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, den kleinen roten Elefanten schemenhaft auftauchen zu sehen, den sie am Strand nach dem Tsunami gefunden hatte. Nives Marell fuhr sich über die Augen, und plötzlich fiel ihr jener Abend drüben im Schwarzen Adler ein, als der Bürgermeister sich ungefragt an ihren Tisch gesetzt und zu ihr »Du, Schneck, geh, hör mal her, wir müssen reden« gesagt hatte. Nives Marell hatte kurz aufgeschaut und in aller Ruhe ihren Krustenschweinsbraten mit Knödeln und Blaukraut weitergegessen. Im Schwarzen Adler schmeckte er am allerbesten.
Der Bürgermeister nahm ihr schweigendes Essen als Einverständnis. Im Dorf sagte man, wenn einem was nicht passte – wenn man schwieg, passte es einem.