Die wilde Reise des unfreien Hans S.. Martin Arz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940839541
Скачать книгу
man sich auf morgen, während die Suppenmacher sich über die Zahl der Gefallenen und Verletzten informieren ließen. Die Ärzte hatten alle Hände voll zu tun, doch die Verluste hielten sich in Grenzen. Ihr Vater, Sultan Bayezid der Blitz, und Alaeddin Ali von Karaman hatten sich durch Boten auf einen Waffenstillstand für die Nacht geeinigt, ließ man die Truppe wissen.

      Kaum war die Sonne untergegangen, verflüchtigte sich auch die Frühlingswärme. Überall zwischen den Zelten wurden Feuer entfacht, und Essensdüfte stiegen in die Nasen. Zur Überraschung aller kam unmittelbar nach dem Essen der Befehl des Sultans, dass alle Feuer nun zu löschen seien. Man werde die Nacht in völliger Dunkelheit verbringen. Erschöpft von Märschen verkrochen sich die meisten aus Hans’ Orta in die Zelte und schliefen sofort ein. Tosender Lärm ließ sie bald hochschrecken. Von Konya her schallten Pauken und Trompeten.

      »Die wollen uns mit Lärm zermürben«, hörte Hans einen Koch vor dem Zelt zum andern sagen. Hans erkannte die Stimme von Bahadir. »Das wird sicher die ganze Nacht so gehen!«

      »Die zermürben sich vor allem selbst«, antwortete der andere Koch. »Die müssen ja selbst wach bleiben.« Die beiden Offiziere lachten.

      »Und unsere Jungs?«

      »Ich habe eine Idee.«

      Kurz darauf kam der Koch Bahadir in das Zelt und verteilte an alle Soldaten grüne Oliven. »Hier, jeder zwei. Steckt sie euch in die Ohren, und dann schlaft gut.«

      Während eine muntere Olivenschlacht unter den jungen Janitscharen ausbrach, kaum dass der Koch das Zelt verlassen hatte, beschloss Hans, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Yorick wollte nicht mit, er stopfte sich demonstrativ die Oliven in die Ohren und drehte sich zur Seite.

      Hans schlenderte durch die Zeltreihen zum Bach, wenn Wachen auftauchten, versteckte er sich in einem Schatten. Der Dolay war zwar breiter, aber viel träger als die Bäche in München. Das regenreiche Frühjahr hatte die Gräser und das Schilf am Ufer bereits kräftig in die Höhe schießen lassen. Bald lag das Lager hinter ihm, und Hans beschloss, ein nächtliches Bad zu nehmen. Er zog sich aus, legte die Kleidung ordentlich zusammen und ließ sich langsam in das kalte Wasser gleiten. Die Frische bitzelte unter seiner Haut. Er schwamm ein wenig stromaufwärts, legte sich dann auf den Rücken und spielte toter Mann. So trieb er einige Meter zurück, dann schwamm er wieder vor und wiederholte das Spiel. Im Übermut beschloss er, sich ein ganzes Stück mit dem Bach treiben zu lassen. Er war sich sicher, dass er die Strecke zurückschwimmen können würde und wenn nicht … auch egal. Er sah hinauf zu den Sternen, schließlich kam er an einer Herde riesiger Schatten vorbei, die unbeweglich in der Dunkelheit standen – das Lager. Mit seinen Ohren im Wasser hörte er den Lärm von Konya nicht.

      Als ihm das Lager weit genug entfernt schien, schwamm er zum Ufer ins Schilf. Da hörte er etwas. Er lauschte angestrengt. Das war nicht die Musik von Konya, sondern das waren leise Stimmen, flüsterndes Lachen. Hans kroch vorsichtig durch die Uferpflanzen den Geräuschen nach. Er wähnte sich in einem Traum: Dort am Ufer und im flachen Wasser tummelten sich junge Frauen. Im Mondlicht schien eine schöner als die andere. Sie trugen dünne weiße Kleider, die sich durchnässt eng an ihre Körper schmiegten und so mehr zeigten, als sie verbargen. Sie wuschen sich, kämmten sich, flochten sich die Haare oder rieben sich die Beine und Arme mit Öl ein, dessen köstlicher Duft zu Hans herüberwehte. Wie benommen kniete Hans weiter auf allen vieren und sog diesen Traum in sich auf. Er hielt die Luft an, denn sein Atmen, da war er sicher, würde ihn schlagartig in die Realität zurückholen. Vor allem aber wollte er den köstlichen Duft nicht mehr loslassen.

      Dann kam eine Frau aus dem Wasser, deren Anmut und Schönheit Hans im Innersten traf. Er kannte dieses Mädchen. Da war er absolut sicher. Es war das Mädchen, das bei Nikopolis an der Donau bereits mehr von ihm gesehen hatte, als es Sitte und Moral zuließen. Die junge Frau nahm ein großes weißes Tuch und hüllte sich darin ein. Sie setzte sich kaum mehr als eine Armlänge von Hans entfernt und rubbelte ihr Haar. Hans konnte nicht anders, auch auf die Gefahr hin, dass ihm der Teufel hier nur einen üblen Streich spielte, und sich alle Frauen in blutrünstige Nachtdämonen verwandeln würden. Er nahm ein kleines Steinchen und warf es in Richtung des Mädchens. Zu kurz. Ein weiteres Steinchen streifte sie am Fuß. Sie sah nur kurz auf, drehte sich aber nicht um. Ein weiterer Wurf, und sie sah erschrocken über die Schulter. Er sah ihre leuchtenden Augen, in denen Überraschung lag. Sie öffnete fragend den Mund. Er hoffe, dass seine Augen auch leuchteten. Da riss ihn ein wütender Schrei aus allen Träumen, und vor ihm erschien ein riesiger Geist, ein monströses Gespenst, das keinen Kopf, kein Gesicht hatte, nur zwei glühende Augen, die über dem Körper schwebten. Es hatte auch keine Hände, dennoch schwang es ein blitzendes Schwert. Hans wollte schreien, bekam aber keinen Laut heraus. Er taumelte rückwärts, der Nachtalp folgte ihm grunzend und entblößte riesige Zähne, die ebenso wie die Augen im Nichts schwebten.

      Hans rannte ins Wasser, tauchte unter und schwamm so schnell er konnte stromaufwärts. Als ihm die Luft ausging, tauchte er kurz auf, atmete tief ein und schwamm unter Wasser weiter und weiter, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Was heißt wäre, der Leibhaftige oder einer seiner Dämonen war tatsächlich hinter ihm her. Als er glaubte, weit genug entfernt zu sein, und hinter sich nichts und niemanden sah, hörte oder spürte, krabbelte er erschöpft ans Ufer. Sein Herz wollte sich lange nicht beruhigen. Bei jedem kleinsten Geräusch zuckte Hans zusammen. Doch kein Dämon tauchte auf. Als er sich halbwegs beruhigt hatte, lief er vorsichtig und gebückt das Ufer entlang, bis er die Stelle mit seiner Kleidung wiederfand. Schnell anziehen und ins Lager zurückhetzen und den Wachen ausweichen und Yorick alles erzählen. Aber Yorick schlief und reagierte auf Hans’ Rütteln mit einem mürrischen Schnauben.

      Hans legte sich hin und starrte zur Zeltdecke. Die Musik von Konya nahm er kaum wahr. Der Teufel hatte ihn mit diesem Schauspiel in die Hölle ziehen wollen. Kein Zweifel. Diese riesigen Augen ohne Gesicht … Hans stopfte sich Oliven in die Ohren und rollte sich ein.

      Hans machte in dieser Nacht fast kein Auge zu, was nicht nur an der Begegnung mit dem Teufel lag. Denn kaum war er irgendwann endlich eingeschlummert, riss man ihn und seine ganze Orta schon aus dem Schlaf. Es war noch weit vor Sonnenaufgang, doch sie bekamen einen Marschbefehl. Sultan Bayezid ließ dreitausend Mann in dieser Nacht in einem großen Bogen hinter die feindlichen Linien ziehen. Der Lärm von Konya half den Truppen, unentdeckt zu bleiben.

      Unterwegs versuchte Hans, sein nächtliches Abenteuer in Worte zu fassen. Doch Yorick meinte nur: »Frauen in weißen Gewändern? Du spinnst doch!«

      »Nein, wirklich, da waren erst die schönen Frauen und dann plötzlich dieser gesichtslose Dämon. Ich schwöre es dir.«

      »Du warst zu lange im kalten Wasser.«

      »Nein, du Depp. Wenn ich es dir doch sage. Das war alles ein Trugbild des Leibhaftigen. Ich habe bisher auch nicht an Dämonen geglaubt, egal, was die Pfaffen gesagt haben. Mein Vater hat immer an Dämonen geglaubt, meine Mutter, Gott hab sie selig, auch. Die hat sich bei jeder Gelegenheit bekreuzigt und den heiligen Michael angerufen. Aber ich nicht. Bis jetzt. Es gibt sie. Glaub mir, es gibt sie.«

      »Na, wenn du meinst.« Yorick klang zunehmend weniger skeptisch. »Ich glaube, ich habe auch mal einen Dämon gesehen …«

      »Du glaubst es?«

      »Na, so richtig habe ich ihn nicht gesehen. Aber als ich jünger war, so fünf oder sechs, bin ich einmal nachts aus dem Haus – wir haben einen Hof, weißt du, einen Bauernhof eigentlich, aber weil mein Vater Edelmann ist, gilt es als Rittersitz. Na, egal, da bin ich mal nachts raus, weil ich endlich den Mann im Mond sehen wollte. Davon hatte meine Großmutter immer erzählt. Sie hat gesagt, dass einst ein törichter Bauer aus unserem Dorf lange vor unserer Zeit sich über das Arbeitsverbot am Sonntag hinweggesetzt hat und einfach Reisig sammeln gegangen ist. Das hat Gott zu erzürnt, dass er den Mann packte und auf den Mond schleuderte. Dort kann man ihn nun sehen, wenn Vollmond ist.«

      »Und das hast du geglaubt?«

      »Hast du noch nie den Mann im Mond gesehen?«, fragte Yorick.

      »Doch, schon. Den sieht jeder. Aber ich glaube nicht, dass das ein dummer Bauer aus deinem Dorf ist.«

      »Ich auch nicht«, kicherte