Nachdem sich die erste Heiterkeit gelegt hatte, gewöhnte man sich auch daran. Wobei noch wochenlang mancher Rekrut mit »Ich muss zum Suppenkoch« oder »Der Oberkoch will mich sehen« einen Lachanfall bei seinen Kameraden auslöste und Sprüche wie »Bring eine Schüssel voll mit!« oder »Sag ihm, der Hammel gestern war zäh!« nachgerufen bekam.
Die Einheit, der Hans, Yorick und Max angehörten, zählte einhundert Mann. Orta nannte man so eine Einheit. Neben dem täglichen Islamunterricht mussten sie an den Waffen trainieren. Schwert und Streitaxt beherrschte Hans aus dem Effeff, doch der Bogen, die Hauptwaffe der Janitscharen, bereitete ihm noch Schwierigkeiten.
»Das Korps ist deine Familie, der Sultan dein Vater«, seufzte Yorick eines Abends und ließ sich auf das Bett plumpsen. »Ich kann es nicht mehr hören.«
»Ach, uns gehts doch gut«, antwortete Hans träge und rieb sich wohlig den Bauch, der eben das Abendessen verdaute.
»Du bist immer mit jeder Situation zufrieden, oder?«
»Wenn es gottgewollt ist und ich sie nicht ändern kann …«
»Wenn wir wenigstens Tricktrack spielen könnten«, sagte Yorick und schielte zu Hans hinüber.
»Dann würden sie uns bestrafen.«
»Wieso? Niemand hat gesagt, dass das verboten ist.«
»Hier ist doch alles verboten, was nicht mit Allah oder Waffen zu tun hat«, knurrte Hans.
»Dann hast du also kein Interesse?« Yorick zog unter seiner weiten Weste ein Holzkästchen hervor und öffnete es. Ein wunderschön gearbeitetes Tricktrackspiel lag vor ihnen. In Wahrheit war es ein einfach gemaltes Spielbrett, doch Hans hatte so lange kein richtiges Spielbrett mehr gesehen, dass ihm das hier einfach wunderschön vorkam.
»Wo hast du das denn her?« Hans merkte, dass seine Stimme vor Aufregung zitterte. »Wir sind doch hier gefangen wie Mäuse in der Falle.« Wie in einem strengen Mönchsorden durften die Janitscharen während der Ausbildung die Kaserne nicht verlassen.
»Mein Geheimnis«, schmunzelte Yorick. »Da draußen ist eine Welt und zu der gibt es verschiedene Kontaktmöglichkeiten.«
»Sag schon!«
Yorick schüttelte lachend den Kopf. »Willst du nun spielen?«
»Und wenn uns einer verpfeift?« Hans sah sich im Saal um, aber kaum einer schenkte ihnen Beachtung. Im Gegenteil, erst jetzt fiel Hans auf, dass auf mehreren Betten offenbar gespielt wurde. Leise und unauffällig, mit Würfeln und Spielbrettern.
»War das gestern auch schon so?« Hans zog die Stirn kraus.
»Vielleicht«, sagte Yorick unbestimmt. »Ich glaube, heute kam eine Großlieferung. Und wenn uns einer verpfeift, dann lassen wir Max auf ihn los.« Yorick deutete zu ihrem stillen Freund, der kerzengerade ausgestreckt auf seinem Bett lag und zur Decke starrte.
Hans gluckste. »Die Rache des Untoten.« Dann kniff er die Augen zusammen. »Steckst du dahinter?« Er machte eine ausladende Geste in den Saal.
»Vielleicht. Kann sein, dass ich heute wie auch immer an fünf Spiele gekommen bin. Und die gegen einen kleinen Obolus verteilt habe. Kann aber auch nicht sein.«
»Yorick van Nazareth, du wirst mir langsam ein wenig unheimlich.«
»Gut so«, lachte Yorick.
»Ich dachte, du bist mein Freund. Jetzt sag schon, wie du das gemacht hast.«
»Ich bin dein Freund, und darum ist es besser, ich sage es dir vorerst nicht.«
Ein Tumult entstand in der hinteren Ecke. Don Juan stritt sich mit einem anderen um ein Spielbrett.
»War klar«, kommentierte Yorick, »ich habe Don Juan keins gegeben.«
Der Kastilier versetzte seinem Kontrahenten einen Faustschlag ins Gesicht. Pech für Don Juan Gonzáles de Clavijo, dass der für ihre Orta zuständige Koch den Zank mitbekommen hatte, das Spiel konfiszierte und Don Juan zu einer Woche Küchenarrest verdonnerte.
Am nächsten Tag unterbrach der kommandierende Suppenkoch der Orta Schiltbergers Training mit dem Schwert und winkte ihn zu sich. Hans überlegte fieberhaft, ob er sich etwas zuschulden hatte kommen lassen. Es fiel ihm nichts ein. Doch! Das Tricktrack. Am Vorabend hatten alle ihre Spiele schnell verschwinden lassen, als der Koch sich den Kastilier vorknöpfte. Bestimmt hatte Don Juan ihn verpfiffen. Na bitte, nun würde die Strafe folgen.
»Hans, du bist ein guter Schwertkämpfer«, begann der Suppenkoch, der Bahadir hieß.
»Ihr seid zu gütig, Herr.«
»Sehr gut mit dem Schwert und gut mit der Axt. Mit dem Bogen hapert es allerdings noch etwas.«
»Ihr habt eine genaue Beobachtungsgabe, Herr.«
»Und du bist nicht dumm.«
Als Hans wieder devot antworten wollte, unterbrach ihn Bahadir ungeduldig. »Du musst mir keinen Honig ums Maul schmieren. Ich war auch einmal in deiner Situation. Ja, ich war fast genau wie du, als ich hier angefangen habe. Sprich gefälligst offen zu mir.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ließ den mächtigen Schnurrbart erzittern. Dann deutete er ernst hinüber zu Max. »Was ist mit deinem Freund los?« Er gab dem Übungsleiter ein Zeichen, und Max wurde zu ihm gebracht.
»Ich würde gerne wissen, was da drin vorgeht.« Bahadir klopfte mit seinen Fingerknöcheln gegen Max’ Stirn. Der Bursche verzog wie üblich keine Miene. »Er kämpft wie ein Löwe, kann die Waffen bedienen. Er kann alles! Er isst, trinkt, schläft, aber warum lebt er nicht?«
»Er lebt doch, Herr. Er kann nur nicht reden …«, sagte Hans schnell.
»Hat er keine Zunge?«
»Genau, Herr.« Hans sog sich eine Geschichte aus den Fingern. »Man hat ihm unmittelbar nach der Schlacht von Nikopolis die Zunge herausgeschnitten. Das hat ihn so betrübt, dass er nun gar nicht mehr reagiert.«
»Hat er gelogen? Warum sollte man ihm sonst die Zunge herausschneiden?«
»Ich glaube nicht. Max lügt nicht. Aber es muss ja wohl so sein …« Hans zuckte mit den Schultern.
Bahadir streckte seine rechte Hand aus und schob Max zwei Finger zwischen die Lippen. Der öffnete den Mund.
»Warum lügst du mich an, Hans?«, sagte er scharf. »Er hat eine Zunge. Willst du deine verlieren?«
»Nein, Herr, verzeiht, Herr. Ich wollte nur meinen Freund schützen.«
»Das ehrt dich.« Bahadir gab Max einen Wink, zu seinem Schwerttraining zurückzugehen.
»Er ist ein Baschi-Bozuk, ein kaputter Kopf«, sagte Hans. »Er hat im Krieg zu viel gesehen.«
Bahadir nickte. »Das haben wir alle. Und du? Hat dich das, was du gesehen hast, nicht auch zum Baschi-Bozuk gemacht?«
»Manchmal verwirrt im Kopf zu sein, gehört doch zum Leben.«
Bahadir lachte laut auf. »Der Philosophieunterricht scheint dir gutzutun. Und dennoch willst du nicht die einzig wahre Religion annehmen?«
»Wenn Ihr es wünscht, dann mache ich das.«
»Das ist Unsinn. Wenn ich es wünsche! Unsinn. Du musst es wünschen. Das Problem mit euch allen hier ist, dass ihr zu alt seid. Ihr seid hier oben«, nun klopfte er mit den Fingerknöcheln an Hans’ Stirn, »schon zu weit. Vergiftet von der falschen Lehre vom falschen Gott. Das Geschwätz eurer Pfaffen hat eure