Max Pfeffer setzte sich in den Schreibtischstuhl und wippte ein wenig. »Weißt du, was mir durch den Kopf geht, Bella?« Er wartete keine Antwort ab. »Helene Schneider und Gisela Schlüter. Wir hatten in den letzten Monaten schon zwei ermordete alte Damen. Die Kubelik wäre unsere Nummer drei. Und bei keiner einzigen gibt es eine vernünftige Spur auf den oder die Täter. Gut, bei der Kubelik wissen wir es noch nicht.«
»Du glaubst, da besteht ein Zusammenhang?« Hauptkommissarin Scholz setzte sich auf die Schreibtischkante. »Räumlich sehe ich da keinen. Helene Schneider lebte in Giesing und … okay … Gisela Schlüter wohnte auch in der Isarvorstadt, Baaderstraße.«
»Ist nur so eine Idee«, sagte Pfeffer nachdenklich. »Die drei wurden der Spurenlage nach in ihren Wohnungen überfallen, ermordet und ausgeraubt. Zumindest fehlten Portemonnaies und Bargeld. Es gab in keinem einzigen Fall Einbruchspuren, also müssen die den Täter freiwillig in die Wohnung gelassen haben.« Er stand auf und holte die Unterlagen zu den beiden anderen Fällen. Er überflog die Protokolle und Zeugenaussagen. Max Pfeffer schlug die Aktendeckel zu. »Kein Nerv. Das mach ich später. Wohnungen nicht durchwühlt. Okay. Der Täter hat nur den Inhalt der Handtaschen geschnappt und ist sofort abgehauen. Keine vernünftigen Zeugenaussagen. Wenn ich mich recht erinnere, will bei der Schneider eine Nachbarin einen unbekannten jungen Mann gesehen haben, den sie aber nicht näher beschreiben kann. Südländischer Typ. Natürlich, was sonst. Und die Tochter von Helene Schneider hat ausgesagt, dass auch wertvoller Schmuck fehlt. Die anderen haben keine Verwandten, die etwas über fehlenden Schmuck oder andere Wertgegenstände sagen können. Allerdings haben wir bei der Schlüter ein wenig Schmuck gefunden. Und der war nicht mal gut versteckt. Der Täter hätte ihn leicht finden können. Seltsam. Wir haben also keine Ahnung, ob wirklich etwas fehlt, und wenn ja, was. Wann haben wir zuletzt bei den üblichen Verdächtigen nachgehakt, ob Schmuck aus unbekannter Quelle angeboten wurde?«
»Letzte Woche. Kein Ergebnis.«
»Dann hat es der Täter offenbar nicht eilig, den Schmuck von Helene Schneider sofort zu Geld zu machen. Er wartet ab. Oder er hat einen Abnehmer, den wir nicht kennen.«
»Oder er hat die Sachen schon längst irgendwo im Ausland vertickt.«
Pfeffer nickte. »Alles dürftig. Gut, vielleicht täusche ich mich auch, und es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den Taten. Widmen wir uns also der Erna Kubelik.«
»Verena?« Der junge Mann studierte immer noch interessiert die Ausweise, die Pfeffer und seine Kollegin hochhielten. Dann gab er den Weg in die Wohnung frei. »Nein, meine Freundin ist nicht da.« Mit einer Handbewegung forderte er die Kriminaler auf, ihm zu folgen. Sie betraten ein Wohn-/Arbeitszimmer mit riesigem Flachbildschirmfernseher, moderner Sitzecke und einem großen Arbeitstisch, auf dem sich Papiere stapelten sowie der größte Computerbildschirm stand, den Pfeffer je gesehen hatte. An den Wänden hingen gerahmte Poster, Werbung aus den Zwanzigerjahren.
»Herr …«
»Degenhardt, Alexander Degenhardt.«
»Herr Degenhardt …«
»Ich bin Grafiker«, fing der junge Mann unaufgefordert an zu erzählen und deutete auf den Schreibtisch. Seine Hände zitterten. »Freischaffend. Mein Büro. Und unser Wohnzimmer.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ein richtiges Büro kann ich mir momentan nicht leisten. Die Auftragslage ist nicht gerade rosig. Und wir brauchen jeden Cent. Sie kennen ja die Mieten in München. Na, wird sich hoffentlich mal ändern, wenn Verena ihren Doktor hat.« Er hörte so unvermittelt auf zu reden, wie er begonnen hatte. »Ich weiß, ich labere zu viel. Entschuldigung. Meine Freundin ist in der Uni. Sie macht gerade ihre Dissertation und hat viel um die Ohren. Worum geht es denn?«
»Sagt Ihnen der Name Erna Kubelik etwas?«, fragte Pfeffer.
»Die alte Säuferin?« Alexander Degenhardt schmunzelte. »Klar sagt die mir was. Einer von Verenas Härtefällen. Hat ihre ganze Rente in Schnaps und Bier umgesetzt. Die konnte man im Sommer jeden Abend um die Häuser torkeln sehen. Und dann ihre Bude! Verena hat mich mal mitgenommen, weil ich ihr nicht glauben wollte, wie es bei der aussah. Also meiner Meinung nach am Rande des Messietums. Und gemüffelt hat es in der Wohnung. Entschuldigung. Ich rede zu viel … Sagt Verena auch immer. Was ist mit der Alten? Soweit ich mich erinnere, war Verena schon lange nicht mehr bei ihr. Sie wird, glaube ich, vermisst. Verena hat vor einigen Monaten mal so was gesagt. Verena war einigermaßen besorgt, dachte, sie sei in der Wohnung gestürzt oder so. Verena hatte den Schlüssel und wir sind zusammen hingegangen. Verena hatte Angst, alleine hinzugehen und dann am Ende über eine Leiche zu stolpern. Aber die Wohnung war leer. Also nicht leer im Sinne von leer. Das ganze Gerümpel stand noch herum. Es war halt niemand da.«
»Und?«
»Nichts und. Wir sind dann noch ein paar Mal hin. Das war nach Neujahr. Halt, wenn ich mich nicht täusche, war es das erste Mal sogar an Silvester. Und nachdem wir drei Mal niemand angetroffen hatten, hat Verena bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. That’s it. Mehr hat sich nicht getan. Verena hat die ehrenamtliche Betreuung sowieso momentan auf Eis gelegt. Keine Zeit mehr. Die Dissertation geht vor. Und Sie suchen nun immer noch nach der Kubelik?«
»Nein, suchen wir nicht.«
»Oh, ich dachte, Sie sind von der Vermisstenstelle.«
»Nein.« Max Pfeffer schmunzelte. »Kripo. Ist das hier Erna Kubelik?« Pfeffer hielt dem jungen Mann das Foto hin, das er von der Pathologie bekommen hatte.
Alexander Degenhardt zog beide Augenbrauen nach oben, dann runzelte er die Stirn und sah von Annabella Scholz zu Max Pfeffer und zurück. »Verstehe.« Er nickte und schluckte. »Nehmen Sie das bitte weg. Ja, das ist sie. Sie ist also tot. Ermordet? Klar. Logisch. Sonst wären Sie nicht hier.«
Das Telefon klingelte und Alexander Degenhardt schnappte sich schon beim zweiten Läuten den Hörer. »Degenhardt? … Ja … Nein … Nein … Das war doch gestern Ihr Wunsch. Ja, das hatten wir … Ich habe noch die E-Mail … Sie haben gestern ausdrücklich … Nein … Sicher. Aber ich denke mir doch so was nicht einfach aus … Okay, natürlich … gut. Die Farben sind aus dem CI-Guide. Das sieht nur auf dem Bildschirm anders aus … Nein, das ist nur ein niedrig aufgelöstes PDF zur Bildschirmansicht. Daher … Ich kann Ihnen auch ein druckfähiges PDF schicken, wenn Ihr E-Mail-Postfach das mitmacht … 24 Megabyte … Doch, so viel … Dann war das wohl ein Kommunikationsfehler. Entschuldigen Sie … Ja, in einer Stunde … Sicher. Entschuldigen Sie nochmals.« Er drückte wütend auf die Taste mit dem roten Hörer. »Arschgesichter«, fluchte er. »Scheißdreckspack. Entschuldigung. Kunden. Gestern hü, heute hott. Und natürlich bin ich schuld, weil ich genau das umgesetzt habe, was sie gestern noch wollten. Heute ist genau das Gegenteil angesagt. Hätte ich riechen müssen. Sieht sowieso schon scheiße genug aus, weil da wieder Menschen in Marketingabteilungen sitzen, die keine Ahnung von irgendwas haben. Wissen Sie, warum die deutsche Werbung oft so beschissen ist? An uns Kreativen liegts jedenfalls definitiv nicht. Debiles Gesindel. Entschuldigen Sie.«
»Freiberufler«, sagte Annabella Scholz mitfühlend.
»Sie sagen es. Ja, die alte Kubelik. Also ermordet. Mein Gott. Haben Sie schon den Täter? Ach, was rede ich, sonst wären Sie ja nicht hier.« Er riss die Augen auf. »Denken Sie etwa, die Verena hätte … Absurd!«
»Warum?«, fragte Max Pfeffer.
»Weil sie … Also, sie hätte doch keinen Grund gehabt. Sie hat der Alten ab und an geholfen. Hat für sie eingekauft und versucht, das Chaos in der Wohnung zu bewältigen. Deshalb bringt man niemanden um. Für meine Verena lege ich die Hand ins Feuer. Die könnte keiner Fliege was zuleide tun. Sie studiert Kunstgeschichte und nicht … äh … da fällt mir jetzt kein passender Vergleich ein. Fragen Sie doch lieber mal die ganzen Penner, mit denen die Alte immer gesoffen hat. Gleich gegenüber. Am Holzplatz. Sie wissen schon, direkt vor dem alten Pissoir stehen die Bänke, auf denen sich immer die Penner, ’tschuldigung, die Obdachlosen sammeln.«
»Sie entschuldigen sich