»Mann, Mann, Mann. Haste auch wieder recht.« Mo zündete sich eine Zigarette an. »Noch schnell eine rauchen, bevors unter die Stadt geht.«
Rudi verdrehte die Augen. Er hatte vor sieben Jahren das Rauchen aufgegeben, und die Argumente, warum man schnell noch eine rauchen musste, bevor man irgendwas anderes machte, nervten ihn ebenso wie das Gequassel. Er starrte auf seine orangefarbenen Gummistiefel und wartete.
Bachauskehr. Jeden April dasselbe. Die Schleusen am Kraftwerk an der Isartalstraße wurden geschlossen, das Wasser floss direkt in die Isar zurück, der Stadtbach lief langsam leer, und die Männer vom Baureferat machten sich auf, das Bachbett zu reinigen. Der Bach floss in einem Betonbett durch das Schlachthofviertel, dann unter der Kapuzinerstraße hindurch ins Glockenbachviertel, wo er an der Pestalozzistraße unter den Häusern verschwand. Selbst die meisten Münchner wussten nicht, dass der Bach unterirdisch zuerst die ganze Altstadt umrundete, bevor er vor der Staatskanzlei am Hofgarten wieder an die Oberfläche kam und dann in den Englischen Garten floss. Wenn man hier, wo Rudi und Mo standen, ein Quietscheentchen in den Bach setzen würde, käme es vor dem Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten heraus. Die Idee mit dem Entchen hatte Rudi schon immer mal gereizt. Aber sie kam ihm immer nur, wenn er auf Bauchauskehr war. Wenn das Wasser wieder floss, hatte er es wieder vergessen.
»Ein Ratz«, sagte Rudi trocken und packte den Kadaver einer Ratte am Schwanz. Das Tier hatte sich in einem Einkaufsnetz verfangen, konnte sich dann wohl nicht befreien und war ersoffen. Rudi warf die Ratte in den blauen Müllsack, den sie für kleinere Fundstücke bei sich führten. Er lüpfte ein wenig die Kapuze seines knallorangen Arbeitsparkas und sah zum Himmel. Grau. Regen. Keine Wolkenlücke in Sicht.
Mo trat seine Zigarette aus. »Bereit für die Dunkelheit, Meister? Mann, Mann, Mann.« Sie stiegen aus dem Bachbett, weil ihnen die Rechenanlage den Weg versperrte. Die Rechenanlage sorgte dafür, dass keine größeren Gegenstände vom offenen Bachlauf unter die Häuser gelangen konnten. Große Äste oder Ähnliches stießen gegen die Gitter, woraufhin sich ein automatischer Arm in Bewegung setzte, der die Gegenstände auf die Seite zog.
Die beiden Männer stiegen hinter dem Gitter wieder ins Bachbett und steuerten auf die Öffnung zu, die unter die Häuser an der Pestalozzistraße führte. Schweigend zückten sie ihre Stablampen und machten sie an. Rudi mochte die unterirdische Bachbegehung nicht. Seit Jahren machte er den Job, und er kannte die Strecke, gefunden hatte er nie mehr als tote Ratten und ausrangierte Gerätschaften, dennoch kroch jedes Mal dieses Gefühl von Unbehaglichkeit über seinen Nacken. So wie jetzt.
»Mann, Mann, Ma…«
»Tu mir einen Gefallen, Mo.« Rudi blieb noch im Eingang stehen und schob die Kapuze vom Kopf. »Kein ›Mann, Mann, Mann‹ mehr für den Rest des Tages.«
»Aber …«
»Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Okay.« Mo zuckte gleichgültig mit den Schultern und folgte dem Lichtkegel seiner Taschenlampe ins Dunkel des Bachtunnels. Den Müllsack hielt er mit der linken Hand und zog ihn über den Boden schleifend hinter sich her. »Mann, … äh … scheißdunkel hier. Na, wenigstens schiffts hier nicht.«
Die beiden stapften langsam tiefer in den Kanal. Ihre Lichtkegel wanderten über den Boden, die Wände hinauf, die Decke entlang, wieder die Wände hinunter und über den Boden. Alles zumindest flüchtig inspizieren. Auch eine grobe Überprüfung der Bausubstanz gehörte zu ihrer Arbeit. Nicht, dass eine der Wohnungen über dem Bach dank maroder Böden und Wände plötzlich ins Wasser stürzte. Das war zwar erst ein Mal vorgekommen, und selbst der erfahrene Rudi kannte die Geschichte von dem Ehepaar, das sich abends schlafen legte und wenige Stunden später eine Etage tiefer im tosenden Bach aufgewacht war, umgeben von den Trümmern ihrer Schlafzimmereinrichtung, nur vom Hörensagen. Dennoch mussten sie auf Risse oder Ähnliches achten.
»Fuck«, sagte Mo dann. Er hatte bisher seine Kapuze nicht vom Kopf genommen. Nun schob er sie langsam in den Nacken. »Da hat doch einer sauber seinen Müll entsorgt.« Er hielt seine Lampe auf den Boden vor ihnen gerichtet.
Rudi folgte dem Lichtschein und sah das Bündel. »Klasse«, grunzte er. Er drehte sich um. Ganz entfernt konnte er noch den Schimmer Tageslicht ausmachen, der von der Tunnelöffnung kam. »Ist nicht so weit. Können wir noch zum Eingang zurücktragen.«
»Lass uns erst aufmachen«, sagte Mo und beugte sich über das Bündel, das zu groß war, um in einen Plastikmüllsack gesteckt zu werden. »Sieht aus wie ein Duschvorhang. Ist ein Duschvorhang. Meine Tante hat genau so einen. Und schön mit Schnur verknotet.« Mo seufzte und wühlte in der Hosentasche nach seinem Taschenmesser. »Wir machens auf, vielleicht finden wir ja einen Hinweis, wer von den Spacken da oben«, er deutete auf die Tunneldecke über ihnen, »seinen Schrott einfach in den Bach schmeißt.«
02
Pfeffer bahnte sich den Weg durch die dürren Äste der Büsche den kleinen Abhang hinunter und stieg dann die wacklige Aluminiumleiter hinab, die an der Betonmauer lehnte. Der pickelgesichtige uniformierte Kollege, der die Leiter unten hielt, begrüßte den Kriminalrat mit einem schiefen Lächeln.
»Einfach immer auf das Licht zu«, sagte er und deutete in das Dunkel der Kanalröhre. »Können Sie gar nicht verfehlen.«
»Danke.« Pfeffer ging vorsichtig auf die Öffnung zu, denn der Boden war rutschig von grünlichen Algen. Das dämmrige Dunkel des unterirdischen Bachbetts umfing ihn. Stimmen hallten durch den Tunnel. In nicht allzu weiter Ferne sah Pfeffer eine Gruppe Menschen in weißem Licht. Er hielt darauf zu. Vier Scheinwerfer hatten die Kollegen von der Spurensicherung aufgebaut. Das gleißende Licht tat in den Augen weh.
»Maxl«, begrüßte die Rechtsmedizinerin Dr. Gerda Pettenkofer den Kriminalrat und richtete sich stöhnend von dem Bündel auf, dem sie bislang ihre Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Sie hatte ein gewaltiges Gewichtsproblem, das ihr nicht nur das Aufrichten schwer machte. Sie keuchte rasselnd und hustete, wie eine Kettenraucherin eben hustet. »Riskierst du mal wieder Ärger mit deiner Chefin?« Sie zog ihre Gummihandschuhe aus und ließ einen spielerisch in Richtung Pfeffer schnalzen.
Pfeffer verzog den Mundwinkel seiner alten Freundin Gerda zuliebe um Millimeter, für ein Lächeln reichte seine Laune nicht. Die Rechtsmedizinerin spielt darauf an, dass Max Pfeffers Vorgesetzte, Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser, es gar nicht gerne sah, dass Pfeffer in seiner Position noch Recherchearbeit vor Ort machte. Als Kriminalrat sollte er sich auf Schreibtisch und Verwaltungsarbeit beschränken. Den Disput führten sie schon lange. Und ebenso lange schob Pfeffer den eklatanten Personalmangel vor, der ihn einfach auf die Straße zwingen würde. Alle wussten, dass das nur ein vorgeschobener Grund war. Pfeffer war einfach nicht für den Schreibtisch geboren.
Er warf einen Blick auf das Bündel. »Was muss ich wissen, Gerda?«
»Miese Laune?«
»Schlecht geschlafen.«
»Details?«
»Später. Sag mir jetzt bitte, was ich wissen muss.«
»Wie lange sie tot ist, kann ich dir noch nicht sagen.«
»Sie? Eine Frau?« Pfeffer sah genauer hin. Der Duschvorhang, in den die Leiche eingewickelt war, war nur ein wenig geöffnet. Mehr als den Kopf sah Pfeffer nicht. Dunkle Haarsträhnen klebten daran. Das Gesicht der Toten war aufgedunsen und beinahe weiß, schillerte ein wenig grüngelb.
»Ja, eindeutig eine Frau.« Die Rechtsmedizinerin bückte sich und zog eine Ecke des Duschvorhangs komplett beiseite. Die Tote war nackt. »So um die sechzig oder siebzig.«
Max Pfeffer zog den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch. Die feuchte Kälte kroch in die Glieder.
»Dem ersten Anschein nach wurde sie erwürgt. Allerdings ist da noch eine Kopfverletzung«, sagte die Rechtsmedizinerin. »Sie weist zusätzlich am Körper noch weitere Hämatome auf. Dazu mehr, wenn ich sie auf meinem Arbeitstisch hatte. Der Täter hat die Frau also womöglich geschlagen und dann erwürgt. Danach die Leiche in den Duschvorhang gewickelt und irgendwie in den Bach