Weltfremd. Roland Düringer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roland Düringer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990011539
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Und das eint uns mit all den anderen Leben auf diesem Planeten.

      Das, was wir fälschlicherweise als unser Leben betrachten, sich aber bei genauerer Betrachtung lediglich als unsere Geschichte entpuppt, ist vergleichbar mit einem Sprung von einem Hochhaus, der ungefähr 80 Jahre dauert. Es beginnt mit der Geburt, der Entscheidung zu springen, und endet mit dem Asphalt, dem Tod. Wobei natürlich so mancher dazwischen, an einer übersehenen Fahnenstange, einem offenen Fensterflügel und, wenn es ganz blöd hergeht, am F der Immofinanz-Leuchtbuchstaben hängen bleibt und dadurch schon vorher den Löffel abgibt oder dabei zumindest bewusstlos und in schwerer Ohnmacht vom Gehsteig zertrümmert wird. Bei manchen setzt diese Bewusstlosigkeit schon sehr früh ein. Und wenn ich früh schreibe, dann meine ich auch früh. Manche schlagen sich ja schon beim Absprung den Kopf so ungeschickt an der Dachkante an, auf dass sie ihre Lebensgeschichte in tiefer Bewusstlosigkeit verleben, ohne jemals gelebt, gespürt und sich selbst erfahren zu haben. Worum es im ersten Teil des Buches geht, ist allerdings das Leben, das wir unabhängig von unserer Geschichte, unabhängig von unserem Verstand und unserem ICH sind.

      »Aber ich bin doch ICH. Da ist kein anderer, da bin nur ICH. In mir bin nur ICH. Was soll ich sonst sein außer ICH, das, was ich aus mir gemacht habe. I bin i und Se san Si.«

      Aber glauben Sie mir: Ich bin nicht ich, und Sie sind nicht Sie. Wir beide haben ein Ich, wir sind aber keines. Wir haben beide ein Ich, weil wir es durch unser Denken konstruiert haben. ICH ist ein Konstrukt, die Summe unserer Erfahrungen, abhängig von äußeren Umständen.

      Überlegen Sie, wenn Sie zu sich sagen: »I bin a festa Trottl«, und damit in der Situation natürlich recht haben, wer spricht da? Was in Ihnen weiß, dass ICH ohne Zweifel ein ziemlicher Idiot ist. Es ist das, was übrig bleibt, wenn Sie eines Tages Ihr ICH verlieren sollten.

      Haben Sie schon jemals in der Vergangenheit Ihr ICH verloren? Wenn Sie sich nicht sofort daran erinnern können, hat es keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn dann sind Sie mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit noch nie Ihres ICHs verlustig gegangen. Denn daran würden Sie sich in der Sekunde, ohne nachzudenken, erinnern. So etwas vergisst man nicht. Ich selbst habe mein ICH schon mehrmals verloren. Als Motorradfahrer passiert es fallweise, und das im wahrsten Sinn des Wortes, dass man sich vom Gerät trennt, und das oftmals unfreiwillig. Während sich das Motorrad in der Botanik kalt verformt, kann es schon vorkommen, dass, ausgelöst durch einen dumpfen Aufprall des Kopfes, der FI-Schutzschalter fällt und sich das Bewusstsein kurzzeitig verabschiedet. In der Regel springt dieser Schutzschalter wieder von selbst rein, und man wacht auf, abseits der Fahrbahn, neben einem verbogenen Eisenhaufen, und hat keine Ahnung, wo man sich gerade befindet.

      »Was mach ich da? Wo bin ich hier? Wem gehört das verbogene Motorrad? Wie heiß ich eigentlich? Wer bin ICH?«

      Alles ist weg. Kein Name, keine Geschichte, kein ICH. Aber du bist zweifellos da. Und genau in diesem Moment ist man dort, wo wir zwei schon einmal waren, aber wir können uns nicht mehr daran erinnern, weil es für Sie und mich schon sehr lange her ist. Für mich war es konkret die Zeit nach dem 31. Oktober 1963.

      Wir kommen als kleine göttliche Lebewesen auf die Welt, gesegnet mit der Weisheit des Universums, Teil der Schöpfung und zugleich selbst Schöpfer unserer Welt. Leider widerfährt diesem kleinen Gott aber zumeist etwas Dramatisches: die eigene Lebensgeschichte. Und diese Lebensgeschichte kann aus einem kleinen göttlichen Lebewesen innerhalb von relativ kurzer Zeit, in der Regel sind es 60 bis 80 Jahre, einen verbitterten, desillusionierten und oft hilflosen »alten Trottel« werden lassen. Was den »kleinen Gott« oder die »kleine Göttin« und den »alten Trottel« oder die »alte Trottelin« (alte Trottelin klingt vollkommen bescheuert, ist aber politisch korrekt, es soll ja niemand diskriminiert werden) eint, ist die Abhängigkeit vom Wohlwollen seiner Mitmenschen. Und dieses Wohlwollen verhält sich reziprok zur Dauer der Lebensgeschichte. Wenn der kleine Gott erstmals kräftig in die Windeln scheißt, so ist dies für die wohlgesinnten Mitmenschen ein sensationelles Naturereignis:

      »Na so ein großes Haufi, na das glaub’ ich ja nicht. Was in so ein kleines Bauchi alles reingeht, was? Und stinken tut der wie ein großer. Da muss er lachen, was? Tun mir zwei jetzt einmal den Popo machen? Na sicher tun mir zwei jetzt den Popo machen, damit er wieder hübsch ist, gel?«

      80 Jahre später. Das was es ist, ist noch immer das Gleiche, das Wohlwollen hingegen nicht:

      »Jetzt friss net so vü, wonst das nimma dahoitst, heast. Jetzt hob i scho gnua vom Oaschauswischen. Wüst net endlich amoi ans Sterben denken!«

      Das aber nur als sehr drastisches Beispiel, immerhin kann man ja auch jemanden anderen bitten oder dafür bezahlen, dem oft gar nicht so nahen Verwandten den Popo zu reinigen, und das mit ein paar aufmunternden Worten auf den Lippen.

      Prinzipiell gehe ich davon aus, dass alle, die diese Zeilen lesen, leben. Es sei denn, Sie sind soeben vor Schreck, vor Hunger, vor Begeisterung oder vor Lachen gestorben. Obwohl, so lustig war’s ja bis jetzt noch nicht. Wird es auch nicht mehr. Wir leben also beide. Wobei es durchaus sein kann, dass während Sie dieses Buch lesen, die Lebensgeschichte des Autors bereits Geschichte ist, davon möchte ich aber jetzt nicht ausgehen. Wir zwei Hübschen (egal ob nun nackt wie Sie oder bekleidet wie ich) leben aber in einer anderen Realität. Jeder von uns lebt seine Lebensgeschichte in seiner Welt, und der moderne Mensch kann sich heute sehr viele Welten aussuchen, vollkommen unabhängig vom Ort. Selbst in einer natürlichen Umgebung, in einem Wald – auf neutralem Boden sozusagen – macht es einen großen Unterschied, ob man Mountainbiker ist oder Jäger. Zur gleichen Zeit am selben Ort, und doch ganz woanders, in einem Paralleluniversum sozusagen. Oder ein anderes Beispiel: Sie sind mit dem Auto unterwegs (denn da ist man in der Regel öfter, weil es dort so schön ist und viel bequemer als im Wald), dann ist die Geschwindigkeit, mit der Sie unterwegs sind, die einzig richtige, die man zu diesem Zeitpunkt auf dieser Landstraße fahren kann. 94,3 Stundenkilometer. Wenn nun jemand vor Ihnen mit 86,9 Stundenkilometern dahinschleicht, also um 7,4 Stundenkilometer langsamer als Sie, dann ist dieser Jemand für Sie:

      • eine fahrende Schikane

      • ein alter Trottel

      • zu deppert zum Autofahren

      • ein Woama (Homo, Schwuchtl, Schwulette) oder

      • (falls Sie ein Mann sind) mit Sicherheit einmal eine Frau

      Sollten Sie, an derselben Stelle dieser Landstraße, mit der einzig richtigen Geschwindigkeit von 86,9 Stundenkilometern unterwegs sein und dabei von einem anderen Fahrzeug mit einem Geschwindigkeitsüberschuss von 7,4 Stundenkilometern überholt werden, dann ist die Person in dem Fahrzeug:

      • eine Gemeingefährdung

      • ein verantwortungsloser Raser

      • offenbar »schwa augsoffn« (alkoholisiert)

      • mit Sicherheit (falls Sie ein Mann sind) keine Frau

      • dem gehört der Führerschein sofort entzogen

      • und der »Komplexler« hat sicher ein zu kleines »Zumpferl« (Penis)

      Ihr Weltbild könnte nun durcheinander kommen, wenn in dem an Ihnen vorbeiziehenden Fahrzeug Gery Keszler oder, noch schlimmer, eine Nonne am Steuer sitzt. Aber ganz egal in welcher Realität das Individuum sich gerade befindet, wir sind immer von Leben umgeben. Manches offensichtlich, wie Tiere oder Pflanzen, und anderes für unser Auge nicht erkennbar, weil unser Auge als für uns wichtigstes Sinnesorgan nur acht Prozent der Schwingungen, die sich um uns befinden, in ein Bild umwandeln kann. Wobei, umgewandelt wird das gelieferte Bild erst durch unser Gehirn. Das Auge selbst wandelt nicht, das schaut bloß blöd. Den Rest, stolze 92 Prozent, sehen wir nicht. Einiges riechen wir, oft unangenehmerweise, anderes hören wir, auch oft unangenehmerweise (Radio zum Beispiel). Von den sichtbaren acht Prozent bleibt uns aber auch noch einiges verborgen, all das, was wir zwar technisch sehen können aber nicht sehen wollen. Wie zum Beispiel die Wahrheit. Man kann uns also mit Recht als durchaus