Ich schwieg. Ich antwortete nur innerlich: Ja Papa, ich werde einmal dort sitzen. Das verspreche ich dir.
Ich war in diesem Moment sicher, dass jeder Mensch eine Bestimmung im Leben hatte, und dass meine trotz meiner Schulleistungen die Politik war. Diese Gewissheit in mir war so groß, dass ich trotz meiner Isolation und den damit verbundenen Demütigungen alle Probleme und Hürden als Aufforderung sah, härter zu arbeiten, härter zu kämpfen und alles zu unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen.
Ich fing an, dafür zu üben. Vor dem Badezimmerspiegel hielt ich Reden. Ich war vielleicht vor Menschen blockiert, aber das hinderte mich nicht daran, hier an meiner Mimik, Gestik und Rhetorik zu arbeiten. Ich stützte die Hände auf den Rand des Waschbeckens, das mir als Rednerpult diente, und legte los. Es waren keine konkreten politischen Themen, die ich da mit mir selbst besprach, ich übte eher die Stilmittel, Techniken und rhetorischen Kunstgriffe der Politiker. Ich studierte Gesten ein, Stehsätze und einzelne Bauteile. »Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir uns unserer Verantwortung im Bereich der Ausländer- und Sicherheitspolitik stellen. Hier geht es um den Schutz unserer Heimat Österreich!«
Die Fragen der Fernseh-Moderatoren an Politiker merkte ich mir, um damit vor dem Spiegel zu üben. Selbst beim Spielen oder bei Hofarbeiten murmelte ich politischen Argumentationen vor mich hin. Am meisten Inspiration holte ich mir von der FPÖ. Sie zeigte damals im Vergleich zu den anderen Parteien einen anderen, neuen und aggressiven rhetorischen Stil. Ich sah die FPÖ-Politiker Peter Westenthaler und Walter Meischberger Journalisten und politische Gegner regelrecht niederreden. Sie brachten im Fernsehen die Fragesteller meist schon aus dem Konzept, ehe die überhaupt richtig angefangen hatten.
In etwa dieser Zeit organsierte die FPÖ-Bezirkspartei von Murau eine Fahrt nach Wien mit einem Besuch des Parlaments. Mein Vater meldete sich und mich zu dieser Fahrt an. Wien war mir egal, nur das Innenleben dieses Gebäudes mit seinen wuchtigen Säulen und der steinernen Pallas Athene vor dem Eingang interessierten mich. Ehrfürchtig ging ich durch die langen Gänge und versuchte dabei mit allen Sinnen, die Eindrücke zu erfassen und einzuprägen, die sich mir boten. Ich sog die Luft auf, die nach dem alten Gemäuer dieses historischen Gebäudes roch und sah den verstreut vorbei eilenden Mitarbeitern und Abgeordneten, mit ihren Akten und Unterlagen unter dem Arm, hinterher. Als Höhepunkt lauschte ich an der Seite meines Vaters von der Besuchergalerie aus der gerade laufenden Nationalratssitzung im großen Plenarsaal. Ich sah das hölzerne Rednerpult mit den schwarzen Mikrofonknöpfen, um das sich wie in einer Arena die Sitzreihen der Abgeordneten auftürmten. Auf einem dieser Sessel werde ich sitzen, dachte ich. Von diesem Rednerpult aus werde ich sprechen. In diesem Haus werde ich arbeiten. Ich war überwältigt von dieser Flut an Eindrücken und fühlte mich dennoch zuhause und angekommen. Nur widerwillig räumte ich nach Aufforderung einer Saalordnerin meinen Platz auf der Galerie, um für die nächste Besuchergruppe Platz zu machen. Ich komme wieder, als einer von ihnen, sagte ich still in mich hinein, während mein Blick ein letztes Mal über die Reihen der Abgeordneten strich.
Als in der vierten Klasse die Nationalratswahlen 1994 vor der Tür standen, ließ uns Juliane Höfinger die Runde der Spitzenkandidaten im Fernsehen nachstellen. Jeweils ein Schüler sollte eine der Parteien vertreten, und dann würde die Klasse mit Stimmzetteln wählen. Beim Völkerball und beim Fußball wurde ich noch immer als Letzter in die Mannschaften gerufen, aber wenn es um die FPÖ ging, war ich der Erste. Es stand in der Klasse außer Streit, wer die FPÖ in dieser Diskussion vertreten sollte, den von meinem politischen Interesse wussten längst alle. »Das macht der Stefan«, hieß es.
In den nächsten Tagen bereitete ich mich intensiv darauf vor. Ich las Hintergrundinformationen und übte wuchtige Ansagen über die rot-schwarze »Freunderlwirtschaft« und die »Privilegienritter« ein. Bepackt mit Unterlagen ging ich in die Diskussion.
Für die SPÖ trat Klaus an, der auch unser Klassensprecher war. Es war meine Chance, mich für die Jahre der Ausgrenzung zu revanchieren. Mir war klar, dass sich niemand so intensiv auf diese kleine Übung in der Klasse vorbereitet hatte wie ich, dass ich in politischem Wissen allen anderen überlegen war und dass es mir leicht fallen würde, meine Gegner rhetorisch zu besiegen. Nun konnte ich zeigen, was ich die Jahre zuvor heimlich zuhause vor dem Spiegel wieder und wieder geübt und geprobt hatte. Nur eines konnte mich noch stoppen: Das Stottern. Ich wusste aber auch, ich konnte diese Sprachbarriere überwinden, wenn ich nur wollte und die Angst davor überwand.
Mit voller Konzentration legte ich los. Der erste Satz gelang mir perfekt, der zweite ebenfalls. Damit war der Damm gebrochen und die Worte und Sätze sprudelten nur so aus mir heraus. Klaus knickte ein, als ich Argument um Argument und Beispiel um Beispiel brachte. »Mit solchen Mitteln arbeitet ihr! Das ist ein Skandal!«, sagte ich einmal, während ich ein Plakat der Sozialistischen Jugend hochhielt. »Inländer sind faul und stinken«, stand darauf. Es war ein Versuch der Sozialistischen Jugend gewesen, die Diktion der FPÖ zu karikieren, doch im Getöse eines Nationalratswahlkampfes hat solche Ironie keinen Platz und die Sache war für die SJ nach hinten losgegangen. Die FPÖ hatte das Plakat sogar groß in ihrer Parteizeitung abgedruckt. »Das ist also eure Meinung über uns«, sagte ich in Richtung Klaus, »dass wir faul sind und stinken.«
Nach der Auszählung durch unsere »Wahlkommission« war ich klarer Sieger, und Juliane Höfinger wirkte leicht pikiert. Sie dachte anscheinend, sie hätte im Unterricht etwas falsch gemacht, weil alle FPÖ wählten, eine Partei, die für sie offenbar unwählbar war. Niemand meiner Mitschüler gratulierte mir, dem Außenseiter. Mir jedoch reichte das Wissen, endlich einmal gewonnen zu haben. Gegen Klaus. Auch gegen mich selbst. Und für die FPÖ. Es gab ein Gebiet, auf dem ich, nun auch nachweislich, der Beste war.
Als in der Folge die Entscheidung über meine Zukunft nach Beendigung der Schulpflicht anstand, war Juliane Höfinger die Einzige, die mich dann in ein Oberstufenrealgymnasium schicken wollte. Alle anderen Lehrer sahen mich angesichts meiner bis zum Schluss mäßigen Schulerfolge eher in einem Lehrberuf und rieten meinen Eltern von ihrem Vorhaben ab, mich an eine höhere Schule zu schicken. Doch Höfinger hielt dagegen. »Der Stefan schafft das«, sagte sie meinen Eltern. Sie setzte sich durch und ich konnte im musischen Zweig des Gymnasiums mit neuen Mitschülern neu anfangen.
Vielleicht war es mein Sieg in der nur für mich so wichtigen »Elefantenrunde«, der mir das Gefühl gab, nicht nur in meinen Träumen, sondern auch im richtigen Leben für etwas gut sein zu können. Jedenfalls vollzog ich in der neuen Schule einen kompletten Wandel. In kürzester Zeit wurde ich von einem schüchternen Außenseiter zu einem aufgeweckten und besonders kommunikativen Jungen. Ich kompensierte jetzt, was ich vier Jahre lang an Freundschaft und Austausch verpasst hatte.
Ich musste mich zwar mit dem Unterrichtsstoff abmühen, doch jetzt war ich fester Bestandteil einer richtig gut funktionierenden Klassengemeinschaft und entwickelte das Talent, nicht nur meine Mitschüler, sondern auch meine Lehrer mit lausbübischem Charme und einem gewissen ironischen Witz für mich einzunehmen. Mich verblüffte es am Anfang selbst, wie effizient sich diese Instrumente einsetzen ließen. Einmal erklärte ich unserer Englischprofessorin anhand des wenigen, das ich über ein uns zur Lektüre aufgetragenes Theaterstück wusste, dass ich es einfach zu langweilig und die im Stück erzählte Liebesgeschichte viel zu kitschig gefunden hätte, um nach ein paar Seiten weiter zu lesen. »Für so etwas habe ich schlicht keine Zeit. Da mache ich das, was dort steht, doch viel lieber selbst«, sagte ich. Obwohl sie davor alle anderen, die es nicht gelesen hatten, mit einem »Nicht genügend« abgestraft hatte, antwortete sie mir mit einem Lachen. »Du hast recht, Stefan«, sagte sie. »Das Stück ist wirklich mies.« Auf das »Nicht genügend« verzichtete sie.
In dieser Zeit fing ich auch zu rauchen an, denn wer damals zur coolen Avantgarde der Schule gehören wollte, der hatte sich bei den Rauchern im Raucherhof einzufinden. Die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden bedeuteten für mich beinahe schon Strapazen, weil ich längst mit der halben Schule bekannt war, und mit jedem Schüler, dessen Wege ich in den Gängen kreuzte, ein paar Worte wechselte. Ich veränderte