Ich ging in die vierte, und an diesem Schultag im Jahr 1991, ich war zehn Jahre alt, sollten wir in Deutsch einen Aufsatz schreiben. Thema: Mein Traumberuf.
Ich mochte die Volksschule, weil ich dort jeden Tag Kinder aus unserer Gegend traf. Ich war allerdings nur ein mittelmäßiger, weil eher fauler Schüler, der mehr Streiche als Lernen im Kopf hatte. Deutsch ging noch ganz gut, aber die anderen Fächer wie Rechnen fielen mir eher schwerer.
Mein Traumberuf? Ich saß vor meinem Heft in der Schulbank, in die schon Schülergenerationen vor mir ihre Zeichen und Muster geritzt hatten, und musste nicht lange nachdenken. Ich wollte weder Astronaut noch Feuerwehrmann werden, und auch nicht Bauer wie mein Vater und mein Onkel. Ich hatte keinen dieser typischen Jungen-Berufswünsche. Ich wusste ganz genau, was ich werden wollte, und ich war sicher, dass ich es schaffen würde, trotz meiner mäßigen schulischen Leistungen und trotz eines anderen Problems, das mich seit einer Weile heimgesuchte: Irgendwann in der zweiten Klasse hatte ich zu stottern begonnen.
Weder wusste ich, woher es kam, noch beschäftigte es mich sonderlich, was wohl daran lag, dass wir Kinder einander alle schon immer kannten und nicht hänselten. Es war einfach da und fiel mir zum Beispiel dann besonders auf, wenn ich einmal aufzeigte, aber, wenn mich die Lehrerin aufrief, die Laute nicht heraus brachte. Irgendwann fiel das Stottern auch ihr auf, worauf sie mich in Absprache mit meiner Mutter zu einer Sprachlehrerin schickte. Zu der musste ich einmal die Woche, wegen diverser Übungen, deren Sinn sich mir damals überhaupt nicht erschloss.
Trotzdem hatte mein Traumberuf viel mit der Fähigkeit zu sprechen zu tun. Und mit den in der Grundfarbe Blau gehaltenen Werbeartikel der FPÖ, die ich im Kofferraum des weinroten Passat meines Vaters fand, wenn gerade Wahlkampf war. Ich begutachtete dann immer die Kugelschreiber, Sticker und Aufkleber. Während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr hatte ich mich über und über mit Stickern behängt, auf denen »Ich flieg auf die FPÖ« stand, und war so zur Schule gegangen.
Mein Berufswunsch hatte auch mit meiner wachsenden Leidenschaft für politische Diskussionen zu tun. Während andere Kinder im Schulbus über Kleidung oder Pop-Hits stritten, versuchte ich, politische Diskussionen loszutreten. Meine Cousine, eine Tochter der Kocher-Familie, hielt meistens mit. Ganz ihrer Familientradition entsprechend vertrat sie die ÖVP, während ich für die FPÖ das Wort ergriff. Ich konnte sie relativ einfach in Schach halten, indem ich ihr die Wahlerfolge der FPÖ vorhielt, und die immer größer werdenden Stimmenverluste der ÖVP. Manchmal wurde es so hitzig, dass der Busfahrer intervenieren musste.
Mein Berufswunsch also. Ohne langes Zögern schrieb ich in meinen krakeligen Zügen, an denen unsere Lehrerin wenig Gefallen fand, meine Überschrift hin: »Generalsekretär in der FPÖ unter Jörg Haider.«
Mein politischer Hintergrund
Ich habe mich nie für Ideologien interessiert. Meine Begeisterung für die Politik galt immer nur dem Handwerk. Als Kind interessierte mich, wer die Kugelschreiber, Sticker und Aufkleber machte, die ich im Kofferraum meines Vaters fand. Je mehr ich über diese Dinge herausfand, desto mehr faszinierte mich, womit sich Menschen begeistern ließen und womit nicht, oder wie Wahlkämpfe funktionierten und welche Dynamik ihnen innewohnte. Schuld daran war wohl eine Prägung durch meine Familie, die mütterlicherseits aus einem christlich-sozialen und väterlicherseits aus einem freiheitlichen Teil bestand. Die politischen Wurzeln beider Teile reichten weit in die Vergangenheit.
Meine Mutter, eine geborene Kocher, bekam von ihren Eltern den Namen der österreichischen Kaiserin Maria-Theresia. Die Kochers waren eine von zwei großen Bauernfamilien in unserem Tal. Ihr erster politischer Funktionär war Friedrich Kocher, mein Ururgroßvater, der von 1919 bis 1920 für die Christlich-Sozialen Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung der Ersten Republik war. In diesem ersten, vom Volk frei gewählten Parlament in der Geschichte Österreichs, nach dem Ersten Weltkrieg, beschloss er die Bundesverfassung mit und stimmte bei der Ratifizierung des Friedensvertrags von St. Germain ab. Schon während der Anfänge des Nationalsozialismus waren die Kochers offen gegen Hitler, dessen Schergen den damaligen christlich-sozialen Bundeskanzler Österreichs, Engelbert Dollfuß, ermordeten. Der Name meiner Großmutter war ein Tribut an ihn: Engelberta. Einer unserer Familienlegenden zufolge verweigerte meine Ururgroßmutter Wehrmachtssoldaten einmal sogar Verpflegung. »Für den Hitler gib i nix«, soll sie gesagt haben.
Auch die politische Tradition der väterlichen Linie in meiner Familie reichte weit zurück. Klement Wallner, mein Ururgroßvater väterlicherseits, war Mitglied im Landbund, einer deutsch-nationalen, antiklerikalen Bauernbewegung, die in Deutschland entstanden war und sich auch in Österreich verbreitet hatte. Wie viele zur damaligen Zeit war wohl auch er für den Anschluss Österreichs an Deutschland. Denn nur wenige glaubten damals an das Überleben dieses kleinen Rest-Österreichs, das von der einst so großen K&K-Monarchie übrig geblieben war.
Mein Großvater väterlicherseits, Rudolf Petzner, war ein klassischer Mitläufer. Über seine Haltung im Dritten Reich sprachen wir nie viel. Es hieß von ihm nur, dass er im Zweiten Weltkrieg als Soldat in Deutschland stationiert gewesen sei. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war er Anhänger und Mitglied des VDU, des Verbandes der Unabhängigen, einem nach dem Krieg neu entstandenen Sammelbecken national gesinnter Kräfte. Später wurde er Mitglied der Freiheitlichen Partei Österreichs, der FPÖ, die Ende der Fünfzigerjahre aus dem VDU hervorging.
Mein Vater Hubert wurde 1968 ebenfalls Mitglied der FPÖ. Er übernahm bereits in jungen Jahren sein Mandat als Gemeinderat in unserem Dorf, das damals immer die ÖVP dominierte. Er wurde FPÖ-Ortsparteiobmann und kandidierte später auch für den steirischen Landtag.
Mit meinen Eltern begegneten sich also zwei Kinder aus zwei Familien, die politisch völlig konträr waren. Noch dazu waren die Petzners neben den Kochers die zweite große Bauernfamilie in unserer Gegend, weshalb beide Familien besondere Beachtung und Aufmerksamkeit fanden. Die Liebe wollte es so, dass mit meinen Eltern ausgerechnet zwei Kinder aus diesen beiden großen Familien zueinander fanden und heirateten.
Da es damals üblich war, um Erlaubnis zu bitten, wollte meine Mutter ihrer Urgroßmutter ihre Wahl möglichst schonend beibringen. »In Ordnung«, sagte die. »Der Hubert ist ein anständiger Bauer.« Dann hob sie einen Finger. »Aber dass er ein Freisinniger ist, das passt mir gar nicht.« Die Anhänger der Freiheitlichen Partei nannten sie bei uns damals noch »Freisinnige«.
Trotz dieser gegensätzlichen Einstellungen befreundeten sich beide Familien eng miteinander. Die einzige Folge der politischen Trennlinie zwischen ihnen war eine besonders intensiv gelebte politische Diskussionskultur. Politik war bei uns immer Thema. Wir waren alle daran interessiert. Wie das bei einer großen Bauernfamilie mit fünf Kindern so ist, saßen im Haus Petzner immer alle am Küchentisch und debattierten. Wir lernten dabei die Materie spielerisch kennen, indem wir anfangs nur zuhörten und dann immer mehr mitredeten. Mein Vater gab uns nie eine Linie oder eine Ideologie vor. Er war eher darauf bedacht, uns zu mündigen und selbstbestimmten Bürgern zu erziehen.
Nachrichtensendungen im Fernsehen waren bei uns Fixtermine, nach denen wir das Weltgeschehen besprachen. In unserem Tal war das Fernsehen das einzige richtige Fenster zur Welt. Sonst gab es nur Wald, Wiesen und Kühe, was idyllisch sein mochte, aber auch sehr abgeschieden. Wir waren als Bauernfamilie nie im Ausland auf Urlaub gewesen. Schon ein Ausflug zum Wörthersee war etwas Besonderes für uns, obwohl er kaum eine Stunde Autofahrt entfernt lag. Als ich mit knapp elf Jahren zum ersten Mal eine Rolltreppe sah, war das wie ein Weltwunder für mich. Über Politik zu diskutieren war für mich deshalb auch eine Form, am Rest der Welt teilzuhaben.
Der Fall der Berliner Mauer etwa war für mich ein einschneidendes Erlebnis. Dass der Kommunismus im Osten Deutschlands gescheitert war, verstand ich damals nicht wirklich, dennoch saß ich mit den anderen vor dem Fernseher und sah mit großen Augen all diese Menschen auf der Mauer stehen. Etwas Gewaltiges,