Dabei hatte die Finanzkrise einen interessanten Auslöser: Die amerikanischen Regierungen unter Bill Clinton und George W. Bush wollten den amerikanischen Traum vom Eigenheim allen Amerikanern ermöglichen, eine quasi kapitalistische Sozialpolitik. Dazu wurden Hypotheken steuerlich begünstigt, und im Jahr 2003 senkte die US-Notenbank ihren Leitzins auf ein Prozent. Damit wurden die Kredite spottbillig. Millionen amerikanischer Haushalte kauften sich ein Eigenheim auf Kredit und ohne Sicherheiten. Ihre einzige Sicherheit stellte die waghalsige Voraussage ständig steigender Immobilienpreise dar. Als die Hypothekenzinsen wieder stiegen, konnten viele Menschen ihre Kredite nicht mehr bedienen. Anstatt ihr Haus abzuzahlen, nahmen sie weitere Konsumkredite auf und verschuldeten sich noch mehr. Wer sein Haus verkaufen wollte, merkte aber bald, dass er mit dieser Idee nicht alleine war. Die Preise für Häuser gingen in den Keller. Die Immobilienblase war geplatzt.
Auf keiner Ebene und zu keinem Zeitpunkt hatte eine Kommunikation des Risikos zwischen Banken und Kunden oder zwischen Banken und Staat stattgefunden. Risiken und die Kommunikation darüber waren ausgeblendet worden. Zusätzlich gelang es den amerikanischen Banken, ihre Bilanzsumme mit neuen Produkten, sogenannten Derivaten, hochzutreiben. Die Bilanzsumme – also die Größe, Bedeutung und Macht – einer Bank addiert sich aus den vergebenen Krediten. Die Bilanzsumme der Deutschen Bank war mit 2,2 Billionen Euro nur etwas kleiner als das gesamte deutsche Bruttosozialprodukt mit 2,9 Billionen Euro (2013).
Die US-Banken hatten aus den Immobilien-Krediten neue Kreditpakete, die sogenannten Derivate, entwickelt, die sie weltweit an Investoren verkauften. Derivate sind nichts anderes als Wetten auf das Eintreten eines bestimmten Ereignisses. Ohne es genau zu wissen, spekulierten Kunden in Europa darauf, ob Kunden in Amerika ihre Kredite bedienen könnten. Das System bröckelte und brach zusammen, als massenhaft Kunden ihre Kredite wirklich nicht mehr bedienen konnten und die Halter der Derivate alle ihren Wetterlös haben wollten. Die Banken, die zuerst betroffen waren, fanden eine Problemlösung und meldeten Insolvenz an, stellten sich also unter staatlichen Schutz. In den USA nennt man das »Chapter 11«. Die amerikanische Regierung konnte die drei großen Banken der klingenden Namen (Bear Stearns, Fannie Mae, Freddie Mac) mit einigen Milliarden Dollar stützen. Als am 15. September 2008 die Bank Lehman Brothers Chapter 11 beantragte, verzichtete der konservative, marktliberal eingestellte US-Finanzminister und vormalige Goldman Sachs-Manager Henry Paulson auf staatliche Unterstützung und ließ die Bank pleitegehen. Viele erinnern sich, wie die Mitarbeiter von Lehman mit kleinen Kartons, aus denen Ordner oder Blumen ragten, das Finanzviertel räumten. Die psychologische Unsicherheit über die Werthaltigkeit und Zuverlässigkeit aller Banken wuchs immens. Das Bankensystem in der bisherigen Form verlor sein wichtigstes Kapital, das Vertrauen. Vertrauen ist eine rein psychologische Variable, im Bankensektor existierte es plötzlich nicht mehr. Und das Misstrauen hält bis heute an. Der unmittelbare finanzielle Schaden, der durch diese plötzliche Insolvenz der Bank Lehman Brothers hervorgerufen wurde, wird auf 50 bis 75 Milliarden US-Dollar geschätzt. »Peanuts«, würde manch ein Banker sagen.
Das Resultat, der Erfolg des Vorganges, war jedoch nachhaltig. Die Finanzkrise brachte Staaten an den Abgrund. Der psychologische, über das systemische Zusammenwirken erzeugte Schaden war gigantisch.
Mindestens ein wichtiger Teil der Wirtschaft, die Finanzindustrie, hat damit ihr Scheitern dokumentiert. Gier und »moral hazard«, wie man moralische Vergehen in der Wirtschaft nennt, haben entscheidend dazu beigetragen. Da man dieser Branche in den USA auch die Altersvorsorge der Menschen anvertraut hat, sind die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert. Die Fachleute halten seit 2008 den Atem an, dass bloß nichts Weiteres passiert. Die psychologischen Konsequenzen sind trotz Schnelllebigkeit des wirtschaftlichen Geschehens gravierend. Ob bei den Lehman Brothers die besonders »kriegerische« Sprache ihres Managements zu dem Desaster beigetragen hat? Der frühere CEO Richard Fuld sagte jedenfalls gerne Sätze wie »Wir werden die Konkurrenten vernichten«. Das eine solche Haltung nicht gerade zur solidarischen Rettung durch andere eingeladen hat, liegt auf der Hand. Mit Lehman »Sisters« wäre das jedenfalls nicht passiert.
Fest steht jedoch auch, dass ein aufgeblähter Finanzkapitalismus lange Zeit Wohlstand und Wachstum aufrecht erhalten hat. Aber letztlich fragile, psychologisch aufrecht erhaltende Kreisläufe charakterisierten die Wirtschaft. Hier kommt die systemische Perspektive der Balancen ins Spiel. Solange sich die aufgebauten Türme in Balance halten lassen, funktioniert das System, doch das psychologische Gleichgewicht kann zusammenbrechen, sobald ein Steinchen herausgezogen wird. In der Finanzkrise war dieses Steinchen die Pleite der Lehman Brothers. Und offenbar waren Finanzexperten weltweit von den Auswirkungen dieser Gleichgewichtsstörung überrascht. Das faktische und psychologische Einschreiten des Staates korrigierte das aus den Fugen geratene Gleichgewicht.
Folgerichtig wurde in Deutschland 2013 die Partei, die für die ungeregelte wirtschaftliche Aktivität stand und am meisten vor Staatseingriffen in die Wirtschaft gewarnt hatte, die FDP, aus dem Bundestag herausgewählt. Ihre wirtschaftspolitische oder besser gesagt wirtschaftsideologische Position war für die Menschen praktisch widerlegt.
Die Rekursivität, das Sich-Wiederholen ähnlicher Prinzipien, wird eigentlich in der Wirtschaftstheorie in vielen Modellen unterstellt. Das notwendige, durchgehende Prinzip in der Wirtschaftskrise war die Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs und seiner Geschwindigkeit. Die systemischen Interventionen zur Finanzkrise zielten bezüglich Rekursivität auf das Erhalten dieses wirtschaftlichen Kreislaufs und seiner Geschwindigkeit ab.
Die neoliberal denkende amerikanische Bush-Regierung war mit ihrer Entscheidung, Lehman Brothers nicht zu retten, allerdings dem Prinzip der freien Marktwirtschaft gefolgt. Wenn ein Unternehmen gescheitert ist, soll es vom Markt verschwinden. Die psychologischen Folgen dieser Intervention ließ viele dann sehr schnell umdenken. Nachdem die Wirtschaftspolitik von John Maynard Keynes, die gezielte Beeinflussung der Wirtschaft durch staatliche Nachfrage, seit den 1990ern »beerdigt« schien, stand sie innerhalb weniger Wochen in der ganzen Welt wieder auf.
An dieser Stelle wird auch klar, wie die Subsysteme (Unternehmen, Konsumenten, Staat, Außenwirtschaft) miteinander agieren. Der Staat greift in die Wirtschaft ein, ob er will oder nicht. Nach der Rettung der Banken waren in Deutschland Konjunkturprogramme in Milliardenhöhe, etwa für die Abwrackprämie möglich, um rein psychologisch Handlungsfähigkeit und Sicherheit zu suggerieren. Diese Innere Pulsation, das Zusammenwirken der Subsysteme, ist in Deutschland auf der Basis der föderalistisch geprägten breiten Wirtschaftsstruktur – ähnlich wie in anderen Bundesstaaten – recht gut gelungen, aber in einigen Nachbarländern (Großbritannien, Frankreich) nicht. Zentralistisch organisierte Länder scheinen zu wenig regionale Wirtschaftskräfte auszubilden.
Wirtschaftssysteme kannten bisher auch eine Äußere Pulsation, das Setzen einer äußeren Grenzlinie. Früher bildeten alle Ostblockstaaten einen eigenen Wirtschaftsraum. Das ist vorbei. Es gibt sie aber noch, die äußeren Grenzlinien. Mittlerweile existieren nur noch einige nicht in die Weltwirtschaft integrierte »Schurkenstaaten«, wie George W. Bush diese Länder bezeichnete. Jedoch der Ausschluss erscheint heute immer weniger möglich. Man kann weder Russland noch Griechenland aus der Weltwirtschaft ausschließen. Die herrschende Aufmerksamkeit der globalen Welt ist der Wettbewerb – eine Form des Kampfes – aller Nationen auf dem Weltmarkt.
Gleichzeitig sind die systemischen Verknüpfungen heute sehr viel deutlicher als früher. Die Vernetzung aller wichtigen Wirtschaftsnationen, denen Gremien wie die G8 und G20 institutionell Rechnung tragen, aber auch die Verbindung mit Schwellenländern, jenen, die unsere T-Shirts produzieren, mit Russland und dem Irak, die unser Öl liefern, und mit Afrika, wo Millionen von Menschen einen Weg nach Europa suchen, lassen das globale System deutlich werden. Tatsächlich leben wir in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeit. Darin, diese nicht in ausbeuterischen Beziehungen zu leben, besteht heute die große Herausforderung. In der Inklusion, dem Einschließen aller, liegt heute ein Quantensprung in der Wirtschaftsentwicklung. Zur Diskussion stehen allerdings die Spielregeln, die dabei verlangt werden.
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